„Die Königin denkt …“ – So kann man es in zahlreichen Briefen lesen, die Queen Victoria an Premierminister, Minister, Schriftsteller, Maler, Ärzte, Könige, Kaiser, Musiker, Polizisten, Beamte, Offiziere, Abgeordnete, Grafen, Barone … geschrieben hat.
„Die Königin“ – Victoria schrieb bei Briefen, die sich nicht an Angehörige richteten oder allgemein privater Natur waren, von sich in der dritten Person.
Das erinnerte mich stark an die von mir so sehr verehrte Maria Callas, die von sich als Sängerin ebenfalls immer nur in der dritten Person sprach.
In Julia Bairds Biografie der Königin Victoria, die ich euch heute vorstellen darf, ist mir dieses Phänomen immer wieder aufgefallen. Diese Trennung zwischen der öffentlichen Person und dem privaten Menschen.
Baird schafft es, diese Aufspaltung der Königin zu erklären und nachvollziehbar zu machen und das in einer denkbar spannenden Art und Weise. Seite um Seite habe ich verschlungen ohne mich auch nur ein einziges Mal zu langweilen.
Beinahe romanhaft schildert sie das Leben dieser ganz und gar durchschnittlich überdurchschnittlichen Frau.
Beispiel gefällig?
„Victoria lag auf dem Bett und war außer sich. Noch nie hatte sie sich so elend gefühlt. Ihr Kopf hämmerte. Ihr war übel, seit Tagen plagte sie hohes Fieber und ihre Wangen waren so eingefallen, dass sie sich im Spiegel kaum mehr erkannte. Neben ihr stand die geduldig Kümmel kauende Baroness Lehzen, auf der anderen Seite des Raumes jedoch stand wie erstarrt die Herzogin von Kent und blickte mit geballten Fäusten unverwandt aus dem Hotelfenster, von wo aus der Strand von Ramsgate in der Abendsonne zu sehen war.“
Eine Szene, die genau so eins zu eins in einem Roman vorkommen könnte. Doch man sollte sich durch diese Lesbarkeit nicht irritieren lassen: es handelt sich um eine hervorragend recherchierte Biografie der Königin, bei der sogar im Anhang die Einteilung in Primär- und Sekundärquellen vorbildlich wissenschaftlich ist.
Das große Phänomen in Victorias Leben ist und bleibt für mich die Trennung ihres Lebens in v.A. und n. A.
VOR ALBERT und NACH ALBERT.
Allerdings wird diese Aufteilung auch in Bairds Buch problematisch.
Zu Erklärung: wir lernen mit Victoria eine junge Frau kennen, die bis zu jenem Tag da sie Königin von England wurde, eindeutig von ihrer Mutter, der Herzogin von Kent, und deren Liebhaber, Sir John Conroy, dominiert wurde. Die Mutter schlief sogar in Victorias Zimmer. Jeder ihrer Schritte wurde überwacht und für jede Bewegung erhielt sie von den beiden Anweisungen. Jeder ihrer Gedanken schien nur dahin zu gehen, ob sie der Mutter dieses und jenes zumuten könne.
Als dann aber die Krone auf ihr Haupt gesetzt wurde, änderte sich alles.
Hatten sich eben nicht nur die englischen Politiker und Diplomaten Gedanken gemacht, wie die neue, junge Königin einzuschätzen sei, gab es bald keinerlei Fragezeichen in den Köpfen der Herren mehr.
Die Abschirmung der künftigen Königin war derart vollständig gewesen, dass alle vollkommen verunsichert waren, mit was da zu rechnen sei.
Victoria aber setzte sich energisch und selbstbewusst auf den Thron. Ohne Zögern oder Zaudern ergriff sie die Macht. Entschlossen – wie sie selbst schrieb – „gut zu sein„.
Mit einem entschlossenen Befreiungsschlag sperrte sie nunmehr ihre Mutter – wortwörtlich – aus, denn diese musste Victorias Schlafzimmer räumen. Conroy wurde in die Eiszeit entlassen. Alleine Baroness Lehzen, ihre alte Kinderfrau, blieb beständig als Ratgeberin und Vertraute an Victorias Seite.
Victoria regierte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Voller Fleiß und Energie durchackerte sie bei Tag die Regierungspapiere, während sie die Nacht durchtanzte.
Selbst mehrere auf sie verübte Attentate überstand sie mit stählernen Nerven. Wenn sie – alleine in ihren Räumen – dann auch bebte und zitterte, so setzte sie sich doch am nächsten Tag wieder in ihre offene Kutsche und ließ sich durch London chauffieren. Jeder – absolut jeder – sollte sehen, dass sie zwar jung und eine Frau war, sich aber nie und nimmer einschüchtern lassen würde.
Die Engländer begannen, ihre Königin nicht mehr nur zu lieben, sondern zu respektieren.
Und ihre Königin? Sie bewegte sich wie ein Fisch im Wasser.
Dann aber kam die leidige Frage der Heirat. Victoria brauchte einen Ehemann und zum ersten Mal wurde sie sich ihrer Anomalie als Frau auf dem Thron bewusst.
Baird schildert diese Situation ohne zu verurteilen oder Partei zu ergreifen. Das macht hier, wie an manch anderer Stelle, die große Qualität des Buches aus. Neutral schildert sie die Gemütslage Victorias, die sie aus zahlreichen Quellen erschließt. Das erste Treffen mit Prinz Albert, aus dem beide wenig enthusiastisch herausgehen. Albert, der wenig attraktive, stets kränkelnde deutsche Prinz, der immer nur ernst ist und kaum die Überfahrt über den Ärmelkanal unbeschadet überstanden hat.
Soll der sie etwa amüsieren und die Nächte durchtanzen? Wohl kaum …
Victoria hingegen – klein, pummelig und wahrhaftig keine Intellektuelle in Alberts Augen, war für den recht mittellosen Prinzen auf der Suche nach einer Lebensaufgabe, alles andere als ein automatisches Love-Interest.
Beim zweiten Anlauf hatte die Beziehung dann aber bessere Karten und tatsächlich verliebten sich die beiden. Wobei Albert zurückhaltender schien als Victoria. Diese aber war ihrem Mann vollkommen verfallen.
Und mit der Hochzeit und der ersten Schwangerschaft Victorias kommt der Bruch in Victorias Leben: Dem Namen nach ist sie noch immer Königin, tatsächlich aber überlässt sie während der Schwangerschaften die Regierungsarbeit weitgehend Albert. Er wird Schritt für Schritt König – außer dem Namen nach.
So lange Albert lebt, ist das vorliegende Buch dann mehr eine Albert- denn eine Victoria-Biografie.
Das finde ich persönlich nicht schlimm, doch ich hätte gerne mehr darüber gewusst, wie der Alltag einer Königin mit permanent wachsender Kinderschar aussah. Wie sie de facto die beiden Leben vereinte.
So wie es Baird herausarbeitet, hat sich Victoria ihrem Mann in diesen Jahren völlig untergeordnet. Sie hat ihn sogar für den Fall ihres Todes als Regenten für den künftigen König eingesetzt.
Ein Regent, der sogar ohne Rat regieren konnte.
Das Buch stellt Victoria vor und nach Albert am intensivsten dar, womit es Victorias persönlicher PR-Aktion unterliegt und sie auf Rolle des Heimchens am Herd reduziert.
Die andere Schwachstelle liegt meines Erachtens nach in der Einschätzung der Figur Kaiser Wilhelms. Baird betrachtet ihn zu negativ. Er wird als unerwünschter Aufdringling in London dargestellt, was aber nach meinem Kenntnisstand nicht zutrifft. Im Gegenteil. Queen Victoria hat „Willy“ sehr geliebt und sie starb sogar in seinen Armen.
Es muss einen Grund gegeben haben, dass sie so über seine Fehler hinweggesehen hat und gleichzeitig ihre Tochter und deren Ablehnung des behinderten Sohnes sehr kritisch kommentiert hat.
In diesem Zusammenhang hätte ich mir ein paar mehr Details über Vicky in Berlin gewünscht. Es wird nur angedeutet, wie unglücklich sie dort war. Gewiss, es ist eine Victoria und keine Vicky- Biografie, trotzdem hätte ich das spannend gefunden.
Seltsamerweise erfährt Victorias Enkel Eddie (ja – der, den manche für den Ripper halten) die gegenteilige Behandlung. Der Mann, der ein denkbar liederliches Leben geführt hat und in diverse Skandale rund um Homosexuellen-Bordelle verwickelt war, taucht plötzlich als netter Kerl auf, dem man all die schlimmen Sachen ungerechtfertigterweise vorwirft. Hier hätte ich mir schon gewünscht, wenigstens den einen oder anderen Beleg zu bekommen.
Neutral geschildert werden der schottische Begleiter der Königin John Brown und Abdul Karim, ihr „Munschi“ (= Sekretär).
Dass Brown und die Queen verheiratet waren – dafür gibt es keinen Beweis. So viel sei bereits gesagt. Und die positive Wertung, die der Munschi in dem berühmt gewordenen Film mit Dame Judi Dench erfährt, dürfte nach Einschätzung Baird auch nicht haltbar sein.
Auch Victoria selbst wird von Baird durchaus kritisch gesehen. Sie arbeitet sehr schön heraus, dass Victoria sich immer dann am intensivsten eingesetzt hat, wenn sie persönlich betroffen war. Albert hingegen hat stets ein Problem zum Anlass genommen, nicht nur praktische Lösungen zu entwickeln, sondern auch strukturelle Schwachstellen zu erkennen und diese auszumerzen. Dies auch wenn er nicht persönlich betroffen war.
In dieses Themengebiet gehört auch die Behandlung des Krim- Krieges und des Burenkrieges. Victorias damalige Haltung kann man heute natürlich nicht unkritisch stehen lassen. Vor allem auch bei der Irland- Frage zeigt Baird, wir fragwürdig Victorias Haltung den zu hunderttausenden verhungernden Iren gegenüber war. Sie verstand einfach nicht, wo die Mitschuld Londons an der Misere der Iren lag und entsprechend waren ihre Unterstützungsmaßnahmen – vorsichtig gesagt – fragwürdig.
Baird untersucht immer wieder Victorias Entscheidungen und beleuchtet dadurch auch die problematische Tatsache, dass ein Land einem (nicht gewählten) König/ Königin beinahe hilflos ausgeliefert war, wenn diese(r) falsche Entscheidungen traf. Wobei im englischen Fall natürlich immer noch das Parlament einen gewissen Ausgleich liefern konnte.
Am Ende bleibt bestehen, dass eine zuverlässige Quellenauswertung bezüglich Victorias schwierig ist, denn sowohl die Tagebücher Victorias wie auch ihre Briefe wurden redigiert, respektive vernichtet. Ebenso wie viele Erinnerungsstücke, die die Königin aufbewahrt hatte.
Als Fazit kann ich sagen, dass das Buch eine rundum gelungene Biografie ist (mit den oben genannten winzigen Einschränkungen), das ich jedem empfehlen kann.
Es liest sich spannend und flüssig, selbst für jene, die Sachbücher normalerweise nicht gerade schätzen.
Von daher: Daumen hoch für diese hervorragende Biografie einer hervorragenden Königin.
FAKTEN:
Julia Baird: Queen Victoria – Das kühne Leben einer außergewöhnlichen Frau, wbg Theiss Verlag, 2018, 596 Seiten, 19,95 €