Sex, Skandal und ein ungelöster Mordfall im viktorianischen England …

Sex, Skandal und ein ungelöster Mordfall im viktorianischen England, die perfekten Zutaten für eine Story, die noch heute die Hobby- Detektive in Atem hält.

Aber wo beginnen?
Vielleicht in Buscot House … Und bei mir selbst …


Bei meinem ersten Besuch im Jahre 2019

Buscot House, respektive seine wundervollen Gärten, kannte ich eigentlich nur von namenlosen Fotos auf Pinterest.
Sie hatten mich immer fasziniert und ich wollte zu gerne wissen, wo ich sie finden konnte (wenn es sich überhaupt um reale Darstellungen handelte, wovon man ja bekanntlich nicht immer ausgehen kann …)
Schließlich fand ich heraus, dass es sich um Buscot House handelte.
Und im Jahr 2019 konnte ich sie bei einem Aufenthalt dort endlich persönlich in Augenschein nehmen.

Buscot Gardens 2019

Noch immer von der Familie Lord Faringdons bewohnt, ist das Schloss ein wahres Schatzkästlein, sowohl innen, wie auch die weltberühmten Gärten.

Der Familien- Pool

Beim Rundgang durch das Haus wurde ich dann auch auf jenen ungelösten Mordfall aufmerksam gemacht, der mich bis heute beschäftigt, und der mich zu meinem aktuellen Roman inspiriert hat.


MURDER AT THE PRIORY oder auch The Charles Bravo- Murder- Case

Nun ist Buscot House natürlich keine Priory … Diese – und damit das Mordhaus – befindet sich nämlich in Südlondon. Aber die Ehefrau des Mordopfers, Florence Bravo, geborene Campbell, ist hier in Buscot House aufgewachsen.

Florence Bravo, verwitwete Ricardo, geborene Campbell, kam am 5. September 1845 in Darlinghurst/ New South Wales/ Australien zur Welt.
Ihre durch Wolle und Goldhandel zu Vermögen gekommene Familie kaufte Buscot 1859 und ihr Vater Robert Tertius Campbell machte sich daran, ein modernes Mustergut aus dem Anwesen zu machen.
Florence selbst machte durch Intelligenz, Schönheit und einen starken Willen auf sich aufmerksam.
Zu den Besitztümern in England gehörten des weiteren Häuser im luxuriösen Belgravia (London) und Brighton.

Auf einer Reise durch Canada verliebte Florence sich in den schneidigen britischen Offizier Alexander Ricardo. Ricardo entstammte einer ebenso vermögenden wie illustren Familie: Sein Vater hatte ein Vermögen mit der International Telegraph Company gemacht; Sein Onkel war der 5. Earl of Fife.

Am 21. September 1864 heirateten die beiden jungen Leute in Buscot Park. Genauer – in der nahegelegenen Kirche St. Mary‘s, die wir am Ende ihres kurzen Lebens noch einmal treffen werden …

St. Mary’s Church, Buscot 2019
Foto von mir


Die Trauung wurde von Samuel Wilberforce, den Bischof von Oxford, vorgenommen.
Die Zeitungen priesen die Trauung als die „Verbindung zweier großer Familien Europas!“
Dem Familienvermögen entsprechend erhielt Florence eine Mitgift in Höhe von 1000 Pfund pro Jahr. Einer schwindelerregend hohen Summe.
Nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise an den Rhein (très chic!!!), lebten die beiden auf dem Gut Gatcombe Park (das heute übrigens von Princess Anne, der Princess Royal, Tochter der Königin von England bewohnt und bewirtschaftet wird).

Da Florence von einer großen Familie träumte, und die militärische Karriere ihres Mannes als lebensbedrohlich angesehen werden musste, tat sie alles, um ihn zum Rückzug ins Zivilleben zu bewegen.
Im Frühling 1868 bekam sie ihren Willen und ihr Mann verließ die Armee.
Es stellte sich bald als Pyrrhos- Sieg heraus, denn tatsächlich konnte ihr Mann weder im Unternehmen des eigenen Vaters, noch dem des Schwiegervaters Fuß fassen. Er versuchte es eine Weile, langweilte sich dann und hörte wieder auf.
Stattdessen lebten die beiden in permanenten Ferien und reisten zudem viel.
Wie sich schnell erwies, hatte Ricardo ein massives Alkoholproblem, das bislang durch die strikten Regeln der Armee im Zaum gehalten worden war.
Zu allem Überfluss ging der junge Ehemann bald notorisch fremd und es dauerte nicht lange, bis Florence dies herausfand.
Phasen der Nüchternheit und ehelichen Treue wechselten sich mit Saufeskapaden und Sex- Abenteuern ab. Wenn betrunken, wurde Ricardo unkontrollierbar. Verbale Beleidigungen seiner Frau wurden bald zu physischen Attacken.
Dazu kam ein massives finanzielles Problem der beiden, denn ihr Lebensstil wurde nicht von den Mitteln aufgefangen, die ihnen zur Verfügung standen.
Schlussendlich schrieb Florence im Spätjahr 1869 ihrer Mutter, dass sie eine Trennung von Ricardo anstrebe.

Florence suchte Schutz in Buscot und bekam ihn doch nicht. Der überzeugte Calvinist Robert Campbell empfand ein Scheitern der Ehe seiner Tochter als moralisch unerträglich, auch wenn er sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass seine Tochter am Ende ihrer Kräfte war.

Wie in der viktorianischen Zeit üblich, suchte man also einen Kompromiss, mit dem alle Seiten leben konnten.
In Florence Fall sah der so aus, dass sie zur Kur nach Malvern fahren sollte. Während sie dort die Wasserkuren in Anspruch nahm, würde ihr Mann sicherlich zu Verstand kommen (geschockt von der Abreise seiner Frau), die Finger von Suff und Weibern lassen und alles käme wieder in Ordnung.

Wie sich zeigen sollte, was dies eine epochale Fehleinschätzung!

1870 wurde Florence also Patienten der sehr in Mode gekommenen Klinik „The Hydro“ in Malvern, wo der berühmte Dr. James Manby Gully seine Patienten mit diversen in Deutschland und Österreich entdeckten Wasseranwendungen kurierte.

Dr. Gully hatte so illustre Patienten wie Benjamin Disraeli, Charles Darwin, Alfred Lord Tennyson und Florence Nightingale. Die Klinik war hell und geräumig. Die Patienten wurden von aller äußerer Kommunikation abgeschlossen, trugen lose, bequeme Gewänder und durften keinen Besuch empfangen. Offensichtlich ein Paradies für die betuchte Klientel, wenn auch die Wasserkuren wohl weniger angenehm waren … (Fragen Sie Lord Tennyson …)
Gully selbst war ein Zweiundsechzigjähriger, der zwar nicht umwerfend aussah, aber eine besondere Aura besaß. Seine selbstsichere, ruhige und menschenfreundliche Art beeindruckte alle, die mit ihm zu tun hatten. Er galt als extrem klug, wissbegierig und großherzig.
Gully war in zweiter Ehe mit einer wesentlich älteren Frau verheiratet, die allerdings – knapp achtzigjährig – seit Jahren in einem Sanatorium für Geisteskranke lebte.
Gully seinerseits hatte bereits Enkel und sein Haushalt in Malvern wurde von seinen beiden unverheirateten Schwestern geführt.


In langen Gesprächen zwischen den beiden, entspann Florence ihren Wunsch, sich von ihrem gewalttätigen, trunksüchtigen Ehemann zu trennen, was – zu ihrer Überraschung – von Dr. Gully unterstützt wurde.
Alleine – Florence hatte die feste Zusage ihres Vaters, dass er sie im Falle einer offiziellen Trennung von ihrem Mann, ohne weitere Umstände enterben würde. Damit hätte sie keinerlei Einkünfte mehr gehabt. Die Tore von Buscot oder den Häusern in Brighton oder London wären ihr für immer verschlossen.

Doch Dr. Gully wusste Rat: er würde ihr helfen, ein Haus zu mieten und ihren künftigen Lebensweg zu entwickeln.
So kam es, dass die beiden sich immer enger einander anschlossen. Florence saß bald die meiste Zeit bei Dr. Gully in dessen Arbeitszimmer, oder die beiden gingen gemeinsam in den Malvern Hills spazieren.
Es kam wie es kommen musste: die beiden verliebten sich und begannen eine heiße Affäre.

Ricardo gab noch nicht auf – er zog mit einem Diener zu Florence nach Malvern in eine Mietwohnung, in der Hoffnung, sich mit ihr auszusöhnen.
Florence schien nicht abgeneigt, doch als sich sein Zustand so verschlimmerte, dass sein Diener ihn mit Gewalt davon abhalten musste, Florence Leid zuzufügen, war für sie Schluss.
Im März 1871 wurden die Trennungsmodalitäten zu Ende ausgehandelt und es fehlte nur noch die Unterschrift der Parteien.
Tatsächlich aber reiste Ricardo, ohne unterschrieben zu haben, nach Köln, wo er im April 1871 an den Folgen seiner Trunksucht starb.

Hatte sie eben noch keine Ahnung gehabt, von was sie überhaupt leben sollte, so erfuhr sie nun, dass sie Alexander Ricardos Alleinerbin war und die fabelhafte Summe von 40.000 Pfund erben würde. Sie war damit im Prinzip sogar reicher als ihr Vater. Warum das? Nun – die Trennungsvereinbarung war nie von Ricardo unterzeichnet worden, also war sie automatisch Alleinerbin.

Von nun an war Florence eine junge, schöne und sagenhaft reiche Frau.
Ihr Schicksal schien sich endgültig gewendet zu haben.
Sie liebte Dr. Gully in aller Heimlichkeit, und gemeinsam planten sie ihre Zukunft, sobald seine Frau gestorben sein würde. (Was nach ihrer beider Ansicht nicht lange dauern konnte). Gully wollte aus der Leitung der Klinik Ende 1872 ausscheiden, um dann mit Florence als Privatmann zu leben.
Ihre Eltern waren von dieser Beziehung zwar nicht begeistert, doch solange sie diskret gehandhabt wurde, sollten die Dinge eben ihren Lauf nehmen.
Und das taten sie.

Allerdings bei Weitem nicht so, wie die Beteiligten sich das gedacht hatten.

Ihrem plötzlichen Reichtum entsprechend, mietete Florence ein auffallend schönes Haus im Süden Londons.

THE PRIORY!

The Priory heute – unterteilt in mehrere Mietwohnungen
spareroom

Nur wenige Gehminuten entfernt mietete Dr. Gully seinerseits ein Haus, das er in Erinnerung an Florence Haus in Malvern „Orwell Lodge“ nannte.
Sie trafen sich regelmäßig, wenn sie auch entschlossen ihr Geheimnis wahrten und Dr. Gully stets kurz nach neun Uhr abends das Haus verließ, doch nur, um kurz darauf durch die Hintertür zurückzukehren.

Dass alles nicht ganz so einfach weitergehen würde, wurde im Jahr 1872 klar.

Florence hatte sich bei ihrem Anwalt, Henry Brookes, als zahlender Hausgast für einen Urlaubsaufenthalt eingemietet. Dr. Gully – der gute Freund – kam sie dort öfters besuchen.
Als nun die Eheleute Brookes überraschend zu früh von einem Spaziergang zurückkehrten, fanden sie Florence und Dr. Gully in eindeutig zweideutiger Situation auf der Wohnzimmercouch.
Schockiert und empört warfen die Brookes Florence nach lautstarkem Streit aus dem Haus.
Dumm nur, dass die Dienstboten alles mit angehört hatten, und sich die Affäre nunmehr wie ein Lauffeuer in London verbreitete.

Damit waren Florence Ricardo und Dr. Gully sozial erledigt.
Man kann sich heutzutage wohl nur schwer vorstellen, was eine solche Ausgrenzung für die Betroffenen bedeutete. Heutzutage sucht man sich sein persönliches Umfeld mehr oder minder selbst aus. Man entscheidet, mit wem man zu tun haben will und mit wem nicht. Das gilt sogar für die eigene Familie.
Damals aber war man auf das vorgegebene soziale Netz angewiesen.
Florence‘ Einladungen in der Nachbarschaft blieben von nun an unerwidert. Wollte sie einkaufen, weigerten die Kaufleute sich, sie zu bedienen. Selbst ihre Familie brach mit ihr. Sie wurde nicht mehr in Buscot empfangen und ihre Telegramme bleiben unbeantwortet.
Alleine ihr Bruder William hielt zu ihr und bot so einen gewissen sozialen Rückhalt.
Um dieser Isolation zu entkommen, engagierte Florence Mrs. Jane Cox als Begleiterin. Eine verwitwete Gouvernante mit drei Söhnen, mit Verbindungen nach Jamaika, die in unserer Geschichte bald eine bemerkenswerte Rolle spielen sollte.

Als hätte es nicht schlimmer kommen können, reisten Florence und Gully 1873 nach Bad Kissingen, zum einen, um dem Skandal zu entkommen, und zum anderen, damit er die dortigen neuen Wasseranwendungen studieren konnte.
Nach ihrer Rückkehr musste Florence feststellen, dass sie schwanger war.
Schockiert und entsetzt sah sie nur eine Lösung: Abtreibung!

Und der Einzige, der diese durchführen konnte (und würde), war der Vater des von ihr erwarteten Kindes: Dr. James Gully!

Die Abtreibung verlief derart fatal, dass die nachfolgende Entzündung Florence beinahe tötete. Es war das faktische Ende ihrer (körperlichen) Beziehung. Florence weigerte sich von nun an, Dr. Gully zu sehen. Sie hielt sich ihn vom Hals, indem sie behauptete, sich mit ihren Eltern aussöhnen zu wollen und, dass dies nur ginge, wenn sie sich trennten.

Der am Boden zerstörte Gully willigte ein.

Was er nicht wusste: Florence hatte inzwischen Charles Bravo kennengelernt. Einen aufstrebenden Anwalt, der bei seinen Eltern lebte und beste Zukunftsaussichten hatte.


Sie hatten sich – eingefädelt durch Mrs. Cox, deren verstorbener Mann ein Geschäftspartner von Bravos Stiefvater gewesen war – ein paar Mal in London und Brighton getroffen und angefreundet.
Bald hatte sich die Beziehung so weit intensiviert, dass Florence mit einem Heiratsantrag rechnete.
Dies vor Augen, plante sie, endgültig mit Gully zu brechen und traf ihn zu diesem Zweck ein letztes Mal. (Vorläufig letztes Mal, wie wir noch sehen werden)
Wollte Florence eigentlich wieder ihre familiäre Aussöhnung vorschützen, so verplapperte sie sich doch bald und gestand ihre Beziehung zu Charles Bravo. Der zutiefst verletzte Doktor tat aber, was man von einem Ehrenmann erwartete: er zog sich zurück und wünschte dem Paar viel Glück.

Was sie auch brauchen konnten. Was wir ebenfalls noch sehen werden …

Im Oktober 1875 nun war es endlich so weit: Charles Bravo bat Florence Ricardo, geborene Campbell, um ihre Hand. Es war das Beste, was ihr hatte passieren können. Mit dieser zweiten Ehe konnte sie – um Thomas Mann zu zitieren – die Flecken der Vergangenheit tilgen.
So zumindest der Plan.
Doch Florence hatte Zweifel. Berechtigte noch dazu, wie sich herausstellen sollte.
Und so bat sie Dr. Gully um ein weiteres Treffen, wo er ihr den gleichen Rat gab, den ihr auch schon andere gegeben hatten: Sie solle es langsam angehen lassen und den anderen erst besser kennenlernen.
Ein sehr kluger Rat, der dennoch nicht befolgt wurde.

Vor allem brauchte es Ehrlichkeit, wenn die Ehe gelingen sollte, so die Erkenntnis. Florence bat Charles Bravo also um ein Treffen, bei dem sie ihm nicht nur die Affäre mit Dr. Gully gestand, sondern auch die Abtreibung.
Was nun geschah, irritiert noch heute – und dies nicht nur nach viktorianischen Maßstäben …

Charles Bravo – weit entfernt davon, die Verlobung platzen zu lassen – gestand seinerseits, seit mehreren Jahren eine Geliebte in Maidenhead zu haben, die auch ein Kind von ihm habe. Insofern hätten sie ja beide Flecken in ihrer Vergangenheit.

Mooooooment! – sagt da nun der moderne Leser und hat Recht. Eine Geliebte zu haben, die von einem ausgehalten wurde, galt für einen Mann des 19. Jahrhunderts keineswegs als Problem. Au contraire!
Eine Affäre mit einem Mann, der der eigene Großvater hätte sein können und von diesem sogar eine Abtreibung vornehmen zu lassen, war absolut und vollkommen inakzeptabel.
Dass der künftige Gemahl darauf mit einem lapidaren Schwamm drüber reagiert, verwundert nicht nur moderne Leser, sondern auch Florence.

Wieso nun hat Bravo derart nonchalant reagiert? Folge dem Geld! – lautet die Antwort.
Wir haben bereits gehört, dass dank ihres ersten Mannes Florence eine mehr denn vermögende Frau war. Sie besaß ein um ein Vielfaches größeres Vermögen als ihr eher bescheiden lebender Freund. Er erhielt aus seiner Arbeit als Anwalt gerade mal 200 Pfund. Pro Jahr!
Bravo wiederum hatte wohl weniger ihre Vergangenheit, als seine Zukunft im Blick. (Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang gerne an Bendix Grünlich – bitte googeln…)

Der Hintergrund: Der Married Women’s Property Act von 1870.

Seit dem Jahre 1870 durfte jede Frau das Vermögen, das sie in die Ehe mit eingebracht hatte, zur eigenen Verfügung behalten. Ein gewaltiger Schritt, in einem Land, in dem Frauen weder wählen, noch einen Beruf ausüben durften, ohne die Zustimmung des Mannes.
Was in der Ehe erworben wurde, gehört allerdings weiterhin bedingungslos dem Ehemann.

Für Bravo irritierenderweise war Florence nicht kopflos begeistert von seiner vergebenden Haltung. Sie erklärte ihm nämlich, dass sie nicht vorhatte, ihr Vermögen bei der Eheschließung auf ihn zu übertragen.
Woraufhin der nächste Weg des empörten Bravo zu ihrem Anwalt führte. Als dieser ihm den Glückwunsch zur bevorstehenden Eheschließung ausbrachte, herrschte Bravo ihn an: „Damn your congratulations! I‘ ve come about the money!“
Ja, er brachte sogar seinen künftigen Schwiegervater dazu, an die Tochter in seinem Sinne zu schreiben. Alleine, um zu verhindern, dass diese Ruf- Wiederherstellung durch die finanziellen Fragen zunichte gemacht würde.
Florence hingegen ließ sich auch durch den Brief des Vaters nicht beeindrucken.
Im Folgenden blieb das Geld ein immerwährende Streitpunkt.
Florence – abermals in der Zwickmühle – befragte abermals Dr. Gully. Dieser hatte wieder einen recht guten Rat: sie solle nicht über ein paar Möbelstücke mit ihrem Künftigen streiten. Sie solle ihm das Mobiliar der Priory, sowie den Pachtvertrag überschreiben, das eigentliche Vermögen aber für sich behalten. In ihrem Testament würde sie ihn als Alleinerben bedenken.
Charles Bravo war zufrieden.
Dies war ein gangbarer Weg, der am 7. Dezember 1875 direkt in die All Saints Church nach Kensington führte, wo Florence und Bravo heirateten.

Diesmal ging alles eine Nummer kleiner als bei der ersten Hochzeit, mag es scheinen. Und so ging die Hochzeitsreise nicht ins Rheinland, sondern nach Brighton.

Die Dinge schienen sich gut zu entwickeln. Das Paar schien in den ersten Monaten ausgesprochen glücklich. Man spielte zusammen Tennis, unternahm Ausritte und Florence plante eine große Weihnachtsfeier mit dreissig Gästen.
Der gesellschaftliche Bann war offensichtlich gebrochen. Sie war wieder eine respektable Frau.

Mission completed.

Oder doch nicht?

Am 9. Januar informierte Florence ihre Eltern in Buscot, dass sie schwanger sei. Charles hatte bereits einen Spitznamen „Charles the Second“.

Im Februar 1876 allerdings wurde deutlich, dass ein Machtkampf zwischen den Ehepartnern ausgebrochen war:
Es ging um Geldfragen. Immer wieder kritisierte Bravo den extravaganten Lebensstil seiner Frau, die wiederum ihn darauf hinwies, dass immerhin sie dies alles finanzierte und sie gut zurecht kämen.
Die beiden Bravos wurden zu diesem Zeitpunkt von einem Butler, einem Diener, einer Zofe, zwei Hausmädchen, einer Köchin, einem Küchenmädchen, drei Gärtnern, einem Kutscher, einem Pferdeknecht und einem Stallburschen umsorgt. On top kam Mrs. Cox als persönliche Begleiterin der Dame des Hauses.
Was sich nun für heutige Ohren viel anhört, war für die damalige Zeit und den gesellschaftlichen Hintergrund eigentlich normal. Man führte ein großes Haus, hatte einen weitläufigen Garten und eigene Pferde. All dies erforderte einen wesentlich größeren Aufwand als heutzutage, wo so viel automatisiert ist.

Man wird den Gedanken nicht los, dass es bei all diesem Gemecker über Ausgaben gar nicht um einen drohenden Ruin ging, sondern vielmehr um Bravos verzweifelten Kampf um die Vorherrschaft im Leben in der Priory. Er hatte einen Teufelspakt geschlossen: er brauchte Florence‘ Geld, um seine eigene Karriere voranzutreiben (er plante einen Sitz im Unterhaus). Dieses Geld aber sorgte bei seiner Frau für jene Unabhängigkeit, die seine Vormachtstellung in Frage stellte. Eine Vormachtstellung, die als unabdingbar angesehen wurde, wenn man in der Öffentlichkeit als Mann Stärke demonstrieren wollte.

Dazu kommt das Problem, dass Charles Bravo eine dominante Mutter sein Eigen nannte. Wieder und wieder mischte sie sich in die Belange des jungen Paares ein. Ja, sie ging sogar so weit, der Schwiegertochter ins Gesicht zu sagen, dass sie von Anfang an gegen die Ehe gewesen sei und sie nicht ausstehen könne.
Dazu kam, dass er offensichtlich zur Entscheidung anstehende Themen zunächst mit seinen Eltern besprach und dann erst mit seiner Frau.

Und nunmehr gedachte Charles Bravo, Nägel mit Köpfen zu machen und erklärte seiner Frau, er werde die Zofe hinauswerfen, deren Aufgaben vom Dienstmädchen mit übernommen werden könnten. Außerdem müsste einer der Gärtner gehen.
Seine Pläne gingen sogar noch weiter: Die von ihre geliebten Blumenbeete sollten eingeebnet werden, wodurch noch ein weiterer Gärtner eingespart werden könne. Zudem plane er, die Ponys zu verkaufen, was dazu führen würde, dass keine Stallburschen etc. mehr gebraucht würden.
Ah – und da man schon mal beim Entlassen sei, so könne man ja auch auf Mrs. Cox verzichten, denn die habe ja eh praktisch nichts zu tun.
Damit hatte er eindeutig eine Grenze überschritten, denn die beiden Frauen waren sich gute und verlässliche Freundinnen geworden. Sie teilten ein Schlafzimmer, fuhren gemeinsam in der Kutsche aus und nannten sich „Janie“ und „Florrie“. Florence sah nach Mrs. Cox Kindern, wenn die in den Ferien in der Priory waren und Mrs. Cox war mütterliche Vertraute und Stütze ihrer Herrin. Auch Krankenschwester und nimmermüde Pflegerin, wie sich noch zeigen sollte.

Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung.
Einer von vielen. Von SEHR vielen. Auseinandersetzungen, die bald auch handgreiflich wurden …

Heutzutage würde man Bravo sicherlich als krankhaften Kontrollfreak bezeichnen, der seiner Frau das Leben nach allen Regeln der Kunst zu Hölle machte.
Und an dieser Stelle erinnern wir uns daran, dass der abgelegte Dr. Gully ja noch in Steinwurfweite von seiner ehemaligen Geliebte wohnte…
Bravo drangsalierte seine schwangere Ehefrau unablässig wegen dieser alten Flamme, was soweit ging, dass Florence Dr. Gully kontaktierte und ihm anbot, seinen Pachtvertrag der Lodge zu übernehmen, wenn er sich bereiterklären würde, wegzuziehen.
Dr. Gully tat einen Teufel.

Im Dezember und Januar nun erreichten Charles Bravo drei mysteriöse Briefe, die ihn anklagten, Florence nur wegen ihres Geldes geheiratet zu haben und die Florence als Gullys Geliebte bezeichneten. Alle in der gleichen Handschrift.
Bravo beschloss, dass nur einer dieser Briefe geschrieben haben könne: Dr. Gully!
Die von ihm befragte Mrs. Cox allerdings gab zu bedenken, dass es sich nicht um die Handschrift des Doktors handele.
Kein Grund für Bravo, seine Frau von nun an nicht unablässig wegen der Briefe zu traktieren. Er bezichtigte sie, Gully auch weiterhin zu sehen und ihn zu hintergehen.
Ja, er drohte sogar, Gully „auszuradieren“ …
Schlussendlich brach Florence unter den Attacken zusammen und floh einmal mehr zu ihren Eltern nach Buscot Park.

Bravo reagierte mit einer Reihe umschmeichelnder Briefe, die seine Frau zur Rückkehr bewegen sollten.

Ein Satz stach mir nun beim Lesen der Briefe besonders ins Auge … Bravo schreibt darin:

„If you come back, I will so take care of you that you will never leave me again.“ („Wenn du zurückkommst, werde ich mich so um dich kümmern, dass du mich nie wieder verlassen wirst.“)

Klingt dieser Satz nur in meinen Ohren wie eine Drohung?

Im Beisein des Personals in der Priory äußerte er sich allerdings vollkommen anders. Da nannte er seine geflüchtete Ehefrau „ein egoistisches Schwein“, das ihrer Lebtag lang nur verwöhnt worden sei und, dass er als Ehemann ein Recht haben, sich gegen sie zu stellen.

Seine Eifersucht und seinen Hass ließ er auch an Mrs. Cox aus. Wenn er ihr auch in gewisser Weise dankbar war, dass sie ihn und Florence seinerzeit zusammengebracht hatte, so teilte er ihr doch jetzt unmissverständlich mit, dass er sie hinauswerfen werde.

Aller Vernunft zum Trotz kehrte Florence zu ihrem Mann zurück.

Kurz darauf verlor sie das Kind durch eine Fehlgeburt.

Gesundheitlich bereits durch die Abtreibung angeschlagen, versetzte ihr die Fehlgeburt einen schweren Schlag. Florence verfiel in tiefe Depression und konnte wochenlang ihr Bett nicht verlassen.
Ihr Arzt wiederum riet, sie solle an die See reisen und sich dort erholen. Worthing wurde vorgeschlagen.
Der Plan wurde fallengelassen, da sowohl Bravo als auch seine Mutter wegen der Kosten Einspruch einlegten. Es folgten abermals heftige Auseinandersetzungen.

Als nun Florence ankündigte, seine Mutter aufzusuchen und ein für alle Mal Klarheit zu schaffen, stürmte Bravo aus dem Haus und schrie dabei, er werde sich die Kehle durchschneiden. Zuvor schlug er seine Frau so heftig, dass sie zu Boden ging.

Es war Mrs. Cox, die ihm folgte, und ihn soweit beruhigen konnte, dass er in die Priory zurückkehrte.

Im März nun teilte der in einem freien Zimmer schlafende Bravo seiner Frau mit, es sei an der Zeit, die ehelichen Pflichten wieder aufzunehmen. Woraufhin er wieder in das eheliche Schlafzimmer einzog. Mrs. Cox, die bei ihrer Herrin geschlafen hatte, um diese zu pflegen, musste in ihre alte Kammer zurückziehen.

Florence, die inzwischen große Zweifel hatte, ob sie aufgrund ihrer gynäkologischen Vorgeschichte überhaupt ein Kind würde austragen können, musste wenige Wochen später nach Buscot telegrafieren, dass sie wieder schwanger war. Diese Nachricht sandte Schauer des Schreckens durch ihre Familie.

Wie Florence gefürchtet hatte, verlor sie auch dieses Kind am 6. April 1876. Mehr denn je empfand sie nun die Notwendigkeit, nach Worthing zu reisen und sich zu erholen. Körperlich und psychisch am Ende, erholte Florence sich nur schleppend.
Einzig Mrs. Cox und ihr Bruder waren ihr noch als Stützen geblieben.

Der 18. April 1876 markierte nun den ersten Schritt zurück in die Normalität für Florence. Zum ersten Mal verließ sie ihr Krankenzimmer. Sie hatte Charles die Zustimmung abgerungen, ihn nach London zu begleiten, wo sie ein paar Einkäufe machen wollte. Er hatte auch zugestimmt, dass sie das Abendessen gemeinsam im Speisezimmer einnehmen würden. Dies unter der Voraussetzung, dass sie sich danach umgehend zurückziehen würde, um sich wieder auszuruhen.

In dieser Situation ist man als Außenstehende irritiert, denn Bravo scheint in dieser Situation wirklich um seine Frau besorgt.
Sie fuhren bei wechselhaftem Wetter in Richtung London, überlegen dann, wegen des einsetzenden Regens umzukehren, und fuhren dann doch weiter, da es wieder aufklarte.
Vor Bravo liegt ein angenehmer Tag: er will das Türkische Bad aufsuchen und hat eine Mittagessensverabredung mit James Orr, dem Onkel seiner Frau aus Schottland.
Als die Kutsche allerdings an der Orwell Lodge vorbeikommt, ist dies wieder Anlass für Bravo, einen Streit vom Zaun zu brechen.
Es scheint offensichtlich, dass die beiden stets nur für kurze Zeit miteinander klarkommen, bis Bravos Wahn abermals die Zügel in die Hand nimmt.

Die beiden gehen nun gemeinsam zur Bank und danach zu einem Juwelier. Dann trennen sich ihre Wege.
Florence kauft Tabak und Haarlotion für ihren Mann und kehrt dann nach Hause zurück, wo sie sich im Morgenzimmer ausruht.
Bravo hingegen geht ins Türkische Bad und nimmt danach ein kräftiges Mittagessen mit Orr in der St. James‘ Hall ein.

Unterwegs trifft er noch einen Freund, den er zum Abendessen in die Priory einlädt, was dieser aber abschlägt. Stattdessen werde er der Tage vorbeischauen.
In bester Stimmung kehrt Bravo heim.
Er erklärt, dass er noch einmal ausreiten werde, was sich als fatale Entscheidung entpuppt, denn wenn der Pferdeknecht auch strikt abrät, da die Pferde in schwieriger Verfassung seien, setzt Bravo sich durch.
Über mehrere Meilen bockt das Pferd und als Bravo nach Hause zurückkehrt, ist er offensichtlich mehr als mitgenommen. Er ist bleich und so schwach, dazu von Schmerzen geplagt, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann.
Der Butler muss ihm in den oberen Stock helfen, wo er ein Bad nimmt und sich mit Brandy stärkt.
Aber – er hat sich durchgesetzt!

Als er zum Abendessen mit seiner Frau und Mrs. Cox erscheint, ist er übellaunig. Nicht nur, dass ihm der Ritt in den Knochen steckt – er hat auch heftige Zahnschmerzen. Er lehnt den Fischgang ab und nimmt nur vom Lamm.
Seine Laune wird weiterhin durch einen Brief seines Stiefvaters, Joseph Bravo, getrübt, der versehentlich einen Brief von Charles‘ Broker erhalten hat, in dem dieser den Verlust von 20 Pfund bei einer Spekulation mitteilt. Bravo Senior ist nicht erbaut, dass sein Sohn an der Börse zockt.
Also wieder jemand, der seine Autorität in Frage stellt und seine Handlungen tadelt!

Die beiden Frauen versuchen, ihn abzulenken. Mrs. Cox war am frühen Morgen nach Worthing aufgebrochen, um dort nach einem kleinen Haus für Florence zu suchen, wo diese sich erholen könnte. Sie zeigen ihm ein Bilder des gefundenen Häuschens. Bravo aber wirft das Bild zu Boden und will nichts davon wissen.
Florence zieht sich nach diesem verkorksten Abendessen zurück. Ihr Mann verfolgt sie mit seinen Vorwürfen bis in ihr Schlafzimmer. Dort massregelt er sie auf Französisch, weil sie so viel getrunken habe und das wohl ihren Kindern das Leben gekostet habe.
(Der Butler wird bei der Anhörung berichten, dass die beiden Frauen zwei Flaschen Sherry zum Abendessen getrunken hätten, was eine normale Menge sei. Mr. Bravo wiederum habe ein paar Gläser Burgunder getrunken. ebenfalls wie immer.)
Florence hatte zum Mittagessen Champagner getrunken, die Flasche Sherry zum Abendessen und hatte sich dann noch Wasser und Marsala- Wein ins Schlafzimmer bringen lassen.

Als ihr Dienstmädchen mit der zweiten Wein- Lieferung nach oben ging, traf sie auf Bravo, der vor ihr die Treppe nach oben ging und sich zwei Mal nach ihr umdrehte und sie böse ansah. Wohl wegen des Weines, den sie seiner Frau brachte. (Florence übermäßiger Alkoholkonsum war tatsächlich ein Grund der Besorgnis für ihre Ärzte und Familie … Nicht zu Unrecht, wie sich zeigen sollte …)

Kurze Zeit später – das Dienstmädchen suchte nach einem der Hunde ihrer Herrin, um sie für die Nacht nach unten zu bringen – kam Bravo aus seinem Behelfsschlafzimmer gestürmt und schrie: „Florence! Florence! Heißes Wasser!“
Danach taumelte er zurück in sein Zimmer und erbrach sich aus dem Fenster neben seinem Bett.

Das Mädchen alarmierte Mrs. Cox, die sofort zum Hausherren eilte, der mittlerweile bewusstlos zusammengebrochen war.
Dass man heißes Wasser benutzte, um Erbrechen auszulösen, z.B. nach einer Vergiftung, wird uns später noch weitergehender beschäftigen…

Mrs. Cox versuchte augenblicklich, Mr. Bravo aus seiner Ohnmacht zu wecken. Zu diesem Zweck schickte sie das Dienstmädchen Mary Ann in die Küche, um Senfsamen und heißes Wasser zu holen. Dieses Brechmittel sollte Bravo eingeflößt werden. Allerdings waren Vergiftungsbedingt seine Zähne so fest zusammengepresst, dass er nichts schlucken konnte.

Man weckte Florence, die verzweifelt nach einem Arzt schicken ließ.
Schlussendlich schafften die Frauen es, ihn zum Erbrechen zu bringen und dann ins Bett zu schaffen. Er blieb bewusstlos.

In den folgenden Stunden tauchten diverse Ärzte an Bravos Krankenbett auf. Allen wurde schnell klar, dass es sich um eine Vergiftung handelte. Bravo kam wieder zu sich, litt aber unter unvorstellbaren Schmerzen. Dennoch schaffte er es ab und an, sich mit seinen Besuchern zu unterhalten.
Man fragte ihn immer wieder, was er zu sich genommen habe, um ein Gegenmittel suchen zu können, doch er beharrte darauf, das einzige Gift, das er genommen habe, sei Laudanum gegen seine Zahnschmerzen gewesen.

Die versammelten Ärzte erklärten ihm nun – ohne jede falsche Ziererei – dass er nur noch wenige Stunden zu leben habe. Wenn überhaupt…
Man schrieb Telegramme an seine und Florence‘ Familie. Die Bravos kamen sofort, auch seine Geschwister. Von der Familie Campbell stellte sich Mrs. Campbell ein, da Mr. Campbell selbst erkrankt war.

Schlussendlich griff Florence, deren Schmerz und Sorge ohne Ausnahme als authentisch und glaubwürdig beschrieben wird, nach einem letzten Strohhalm:
Sie schrieb einen Brief an einen Bekannten ihres Vaters: Sir William Gull, den Leibarzt von Königin Victoria (und in späteren Jahren notorisch als Ripper- Verdächtiger…)

Dieser Brief wurde unverzüglich zu seinem Haus in der Brooke Street gebracht. Als er las, dass die Tochter von Robert Tertius Campbell nach ihm rief, machte er sich umgehend auf den Weg zur Priory.
Aus irgendeinem Grund, untersuchte Gully den Patienten und kam zu dem unumstößlich Schluss, man habe es mit einem Selbstmordversuch zu tun. (Das wird noch ein echtes Problem, wie wir sehen werden…)

Diese Selbstmordtheorie war für alle Beteiligten ebenso praktisch wie unglaubwürdig.

Zwischenzeitlich kam Bravo für längere Phasen zu Bewusstsein und nach ersten Irritationen, erkannte er bald alle Anwesenden und unterhielt sich mit ihnen. Nachdem er das Urteil seines nahe bevorstehenden Todes akzeptiert hatte, bat er alle, mit ihm gemeinsam zu beten. Es war eine ungemein friedliche Situation.
Bravo bat seine Mutter, offensichtlich mit Blick auf deren Vorbehalte Florence gegenüber, seiner Frau gegenüber stets wohlgesonnen zu sein, denn sie sei ihm die beste nur denkbare Ehefrau gewesen. Seine Mutter verspricht dies, indem sie betont, dass sie zu allen nett sei. (…)

Immer wieder von heftigem Erbrechen, unvorstellbaren Krämpfen und Ohnmachten heimgesucht, quält sich Bravo nicht nur wenige Stunden, wie man vorhergesagt hatte, sondern drei Tage.

Währenddessen wechseln sich Ärzte und Familie in der Wache ab. Man durchsucht das Haus nach Hinweisen auf ein Gift, findet aber nur Laudanum, Chloroform und harmlose homöopathische Tinkturen. Proben von Erbrochenem werden analysiert und Prof. Redwood kommt zu dem Schluss, dass der Sterbende das zehnfache einer für Menschen tödlichen Dosis von Antimon (in einer Zubereitung als Brechweinstein) verabreicht bekommen hat. Es ist wohl seiner guten Konstitution geschuldet, dass er sich derart lange quälen muss.
Endlich gleitet er in eine letzte Bewusstlosigkeit. Um 05:20 Uhr, 55 Stunden nach seinem Zusammenbruch wird er für tot erklärt.

Ich will nun abkürzen…

Wie in solchen Fallen damals üblich, wurde im Speisezimmer, dem größten Zimmer der Priory, eine Anhörung zur Todesursache abgehalten.
Nachdem die Jury im ersten Stock die aufgebahrte Leiche Bravos begutachtet hatte, begab man sich wieder nach unten, um mit dem Verfahren zu beginnen.
Der Coroner, der diese Anhörung leitete, wurde sehr bald deutlich, was die Umstände des Todes anging: Charles Delauney Turner Bravo war an einer tödlichen Menge Antimon verstorben. Und er hatte es in selbstmörderischer Absicht genommen.
Als einer der behandelnden Ärzte sich gegen Ende erhob und seinerseits eine Aussage machen wollte, wurde er schlicht und ergreifend abgewürgt. Offensichtlich wollte man aus falsch verstandener Rücksichtnahme die Familie vor dem Mordverdacht schützen. Denn es war klar, dass Bravo das Gift maximal eine halbe Stunde vor seinem ersten Zusammenbruch zu sich genommen haben musste, und da kamen eben als mögliche Täter nur noch Personen aus dem Haushalt in Frage.
Man fragt sich da natürlich unwillkürlich, wieso ein angesehener Coroner eine solche Vorgehensweise an den Tag legt …

Das Ergebnis, zu dem die Jury kam, lautete im Folgenden, dass Bravo vergiftet worden war, dass man aber nicht sagen könne, wie das Gift in seinen Körper gelangt sei. Kurz – ob er Selbstmord begangen hatte, oder nicht.

Am 29. April 1876 wurde Bravo auf dem West Nordwood Cemetery London beigesetzt. Nach der damals üblichen Praxis blieb Florence der Beisetzung fern. Beim anschließenden Empfang in der Priory weigerten sich einige von Bravos Freunden, das Haus zu betreten.

Hinter den Kulissen war – wie man sich unschwer denken kann – ein Kampf ausgebrochen. Team Campbell gegen Team Bravo.

Bereits kurz nach dem Tod Bravos hatten sich die beiden Väter bei einem Treffen in die Haare bekommen. Campbell beharrte auf einem Selbstmord des psychisch labilen Charles Bravo, während Joseph Bravo einen Selbstmord seines immer fröhlichen, optimistischen Sohnes für absoluten Blödsinn hielt. Und natürlich – für eine Schutzbehauptung.

Dies war auch die Haltung, die Bravos Freunde und Kollegen einnahmen. Bald häuften sich die Briefe bei den verschiedenen Behörden, inklusive Scotland Yard, in denen die Selbstmordthese rundweg verworfen wurde.
Man betonte Charles‘ aufgeräumte Stimmung, seine glückliche Ehe, seine Zukunftspläne. Kein Wölkchen am strahlenblauen Lebenshimmel des Charles Delauney Bravo.

Schlussendlich ist es ein Verfahrensfehler, der dazu führt, dass man den Coroner anweist, eine zweite Anhörung anzusetzen. Er hätte bei der ersten Anhörung des Arzt unbedingt zu Wort kommen lassen müssen. Dr. Johnson war von Anfang an beim Sterbenden gewesen und seine Aussage wäre unabdingbar gewesen.

Inzwischen hatte es der Fall in die englischen Zeitungen geschafft. Hatte der erste Bericht nur frugal das Ableben des aufstrebenden Rechtsanwalts mitgeteilt, so wurde bald ein Massenevent aus dem Todesfall.
Der Ansturm auf die zweite Anhörung war so massiv, dass man sich dazu entschloss, in das Bedford Hotel zu gehen.

Wenn wir nun die Liste der Anwälte betrachten die sich bei dieser zweiten Anhörung einfanden, und die von den beiden Teams, sowie von der Krone berufen worden waren, müssen wir uns wieder ins Gedächtnis rufen, dass wir es hier noch immer lediglich mit der Anhörung zur Todesursache zu tun haben! Es war noch NICHT der eigentliche Prozess.

Dennoch hatten die beiden Oberhäupter der Familien Bravo und Campbell ihr nicht unerhebliches Vermögen aufgewendet, um die Creme de la Creme der englischen Anwaltschaft für ihre Belange einzusetzen.
Alleine der ehemalige Generalstaatsanwalt Sir Henry James berechnete ein Tagesgehalt von 100 Guineen. Das wären im Jahr 2017 knapp 6600 Pfund gewesen.
Zum Vergleich Bravo selbst verdiente PRO JAHR (!) 200 Guineen

Wie auch bei der ersten Anhörung, so machten sich auch diesmal alle Beteiligten auf den Weg zur Leiche. Zu diesem Zweck hatte man Bravo exhumiert und seinen geöffneten Sarg mit einer Glasplatte verschlossen, sodass die Jury einen möglichst unkomplizierten Blick auf den Verstorbenen werfen konnte. (Mir ist da jetzt kein besserer Begriff eingefallen …)
Wenn Yseult Bridges in ihrem Buch „How Charles Bravo died“ von einer wunderbar erhaltenen Leiche schreibt, so stimmt dies nicht mehr der Wahrheit überein.

Der Besuch auf dem Friedhof fand im Juli und damit nur wenige Wochen nach der Beisetzung statt. Dennoch war die Leiche in einem Zustand weitgehenden Zerfalls. Im Gegensatz zu dem praktisch neu aussehenden Sarg, war die Leiche Bravos selbst schwarz verfärbt und selbst die Zähne waren schwarz geworden. Dies rührte von der großen Menge Antimon her, die er eingenommen hatte. Bei geringeren Dosen wiesen Leichen eher eine längere „Haltbarkeit“ auf.

Nach dem Friedhofsbesuch kehrten alle Beteiligten ins Bedford Hotel zurück und die Anhörung konnte beginnen.

Um das Hotel herum hatte sich Volksfeststimmung breit gemacht. Hunderte säumten die Straßen, um die Beteiligten zu sehen. Vor allem erwartete man die Aussage des berühmten Sir William Gull.
Bei der Anhörung selbst müssen sich Szenen wie in einem amerikanischen Gerichtsdrama abgespielt haben. Zeugen, die sich plötzlich nicht mehr erinnern konnten. Apotheker, die so viel Antimon an den Kutscher der Bravos verkauft hatten, daß man damit ganz London hätte ausradieren können. Königliche Leibärzte, die auf unsinnigen Thesen beharrten und schlussendlich auch ihr Heil im Vergessen suchten. Angehörige, die zusammenbrachen.
Und zwei Familien, deren Leben endgültig zerstört wurden.

Am schlimmsten aber traf es wohl Florence Bravo …
Anstatt den Todesumständen ihres Mannes auf den Grund zu gehen, stürzten sich alle auf ihre Affäre mit Dr. Gully. Vor allem die Anwälte der Familie Bravo machten vor nichts Halt.
Da durfte ungebremst Hintertreppentratsch verbreitet werden. Man wollte von den Zeugen bewertet sehen, wie glaubwürdig die Sorge und Trauer der Ehefrau waren. Ob Gully ihr einziger Liebhaber gewesen sei. Ach ja – und nicht zu vergessen: die Abtreibung!!!
Jene Abtreibung, die ganz offensichtlich dazu geführt hatte, dass die Gattin keine Kinder mehr austragen konnte. Und hat sie nicht auch gesoffen? Ja, natürlich! Wie viel Sherry hatte sie beim letzten Abendessen? Oh – und schon Champagner zum Mittagessen … Na, ja.
Man rief Dr. Gully in den Zeugenstand, der – wohl wahrheitsgemäß – aussagte, dass er Florence nach ihrer Heirat noch einmal getroffen hatte, da sie seinen Rat hatte einholen wollen. Dass er keinen Groll gegen Mr. Bravo gehegt habe und auch nicht für die anonymen Briefe verantwortlich sei, die dieser erhalten habe. Ja, die Trennung habe ihn tief getroffen, aber er habe Florence nur das Allerbeste gewünscht.

Auch dies nutzte nichts. Er blieb der geile alte Bock, der aus Rache möglicherweise den Nebenbuhler entsorgt hatte.

Das landete zumindest in den Zeitungen. Und nicht nur in den englischen. Tatsächlich berichtete man inzwischen international über den Skandal/ Mordfall.
Denn um einen solchen handelte es sich. Zumindest nach dem Entschluss der Jury. Diese kam nämlich zu dem Ergebnis, dass Charles Bravo ermordet worden sei, dass aber nicht feststellbar sei, wer dafür verantwortlich sei.

Daraufhin ermittelte Scotland Yard noch eine zeitlang, kam aber zu keinem Ergebnis und so wurde der Fall ad acta gelegt.

DAVOR – DANACH
Wie in allen solchen Fällen, konnten die Beteiligten ihr Leben ab der Tat in ein „Davor“ und ein „Danach“ einteilen, denn danach wird das Leben ein anderes.
So erging es auch den hier Beteiligten …

Florence:
Noch während der Anhörung verließ sie die Priory und zog – um dem Trubel zu entkommen – nach Brighton. Bald wurde die Brunswick Terrace, wo sie sich aufhielt, derart von Neugierigen belagert, dass sie sich nicht mal mehr am Fenster zeigen konnte, geschweige denn das Haus verlassen, ohne dass die Passanten stehen blieben und zu ihr hinstarrten.
Florence verließ Brighton in Richtung Buscot, um dort zur Ruhe zu kommen. Von dort ging es wieder nach London.
Sie zog zurück in die Priory, wo die meisten Dienstboten bereits den Dienst quittiert hatten.
Selbst die unentbehrliche „Janie“ Cox hatte ihre Sachen gepackt. Es war zwischen den beiden Frauen zu einer Auseinandersetzung gekommen, deren Ursache nicht bekannt ist, die aber zu einem endgültigen Bruch führte.
Der Vermieter der Priory drohte wiederum Florence, sie hinauszuwerfen, wenn sie nicht freiwillig packe, was sie auch tat. Ende September 1876 beauftragte sie Bonham and Son mit der Versteigerung des gesamten Inventars der Priory.
Das Zerwürfnis zwischen ihr und ihrer Schwiegerfamilie war endgültig, nachdem ihr Schwiegervater die Kanzlei seines Sohnes hatte versiegeln lassen und einer Durchsuchung zugestimmt. Dies unter Umgehung der Alleinerbin, Florence.
Die Veränderungen sollten auch ihren Niederschlag auf anderer Ebene finden: Florence änderte ihren Nachnamen in das weitaus unbekanntere „Turner“. Ausgerechnet den Mädchennamen ihrer verhassten Schwiegermutter …
Nachdem in London alles aufgelöst ist, zieht sie nach Southsea in die heutige „Eastern Parade“ mit Blick auf das Meer.
Ihr Alkoholkonsum gerät nun endgültig außer Kontrolle und sie verlässt das Haus praktisch nicht mehr. Selbst ihr von der besorgten Mutter beigerufener schottischer Onkel James Orr kann nicht mehr helfen. Das Angebot ihres Bruders, ihn nach Australien zu begleiten, lehnt sie ab.
Im Beisein des Onkels und ihrer Dienstmädchen, stirbt Florence gerade mal 33jährig am 17.9.1878 mit den Worten „Oh, I can’t breathe. Save me! Save me!“ an ihrem Alkoholmissbrauch. Der gleichen Krankheit, der ihr erster Mann erlegen ist.
Sie wird in einer Nacht,- und Nebelaktion auf dem Friedhof der St. Mary’s Church nahe Buscot in einem unmarkierten Grab beigesetzt.


Gedenkplatte
Buscot 2019


Übrigens findet man im Eingangsbereich der Kirche eine Liste der Gräber, dort ist auch die Gedenkplatte eingezeichnet, falls man sie vor Ort nicht direkt findet …

Mrs. Jane Cox
Nach dem oben erwähnten Streit, hatte Mrs. Cox all ihre Habseligkeiten gepackt und die Priory verlassen.
Da sie immer wieder als Mordverdächtige erwähnt wird, und als Beleg ihr prekäre finanzielle Situation im Falle einer Entlassung durch Mr. Bravo genannt wird, sollte man Folgendes erwähnen:
Mrs. Cox hatte einen Onkel und eine Tante auf Jamaika, die sehr wohlhabende Plantagenbesitzer waren.
Nach dem Tod des Onkels, teilte die Tante Mrs. Cox mit, dass sie sie als Alleinerbin im Falle ihres eigenen Todes eingesetzt habe.
Kurz vor dem Tod Bravos erkrankte die Tante schwer und bat Mrs. Cox dringend, nach Jamaika zu kommen, da es Leute gebe, die sich die Plantagen unter den Nagel reißen wollten und so sei es unabdingbar, dass sie vor Ort erscheine, um dies abzuwehren.
Selbst Joseph Bravo, den sie um Rat bat, empfahl ihr dringend, nach Jamaika zu reisen und Florence entbot sich, auf die Jungs aufzupassen, wenn diese Ferien hätten.
Im Oktober 1876 reiste sie mit ihren Söhnen nach Jamaika und tritt ihr dortiges Erbe an. Sie war jetzt eine vermögende Frau.
Jahre später kehrte sie nach England (Lewisham) zurück und verstarb auch dort. Sie ist in einem unmarkierten Grab auf dem Hither Green Cemetery beigesetzt.

Dr. James Manby Gully
Nach dem skandalösen Prozess, der seinen Ruf endgültig ruiniert hatte, kehrte er in die Orwell Lodge, nur Gehminuten von The Priory entfernt, zurück. Er ist von einem gefeierten Mediziner zu einem sozialen Paria geworden.
Er stirbt am 15.3.1883 an Krebs und wird auf dem Kensal Green Cemetery in London beigesetzt.

Mary Bravo
Charles Bravos Mutter stirbt 16.7.1877, also ein gutes Jahr nach ihrem Sohn. Sie hat sich von seinem Tod nicht mehr erholt.

Joseph Bravo
Charles‘ Stiefvater stirbt 1881.

Robert Tertius Campbell
Florence‘ Vater stirbt 1887. Er hatte sein Vermögen sowohl im Umbau von Buscot zu einem Vorzeigebetrieb, wie auch in den juristischen Kampf seiner Tochter gesteckt. Wegen nachlassender Gesundheit konnte er die Lücken nicht mehr auffüllen.
In seinem Todesjahr wurde Buscot an seine Gläubiger übergeben, die es wiederum an den Finanzier Alexander Henderson, den späteren Lord Faringdon, verkauften. Heute befindet sich das Anwesen im Besitz des National Trust, wobei der aktuelle Lord Faringdon noch immer mit seiner Familie dort lebt.

Bis zum heutigen Tage leben noch Nachkommen der Betroffenen dieses furchtbaren Mordfalles.