Nebenstraßen: True Crime

Ungefähr genauso lange wie mit Royalty befasse ich mich mit einem komplett anderen Thema: True Crime.
Begonnen hat alles mit dem Mord an den Prinzen im Tower. Dann kam Jack the Ripper und anschließend ging es über den großen Teich.

Besonders ein Fall hat es mir von Anfang an angetan: Die Lizzie Borden- Morde in Fall River. Ich habe alles gelesen, was ich über den Fall finden konnte, hätte aber nie zu hoffen gewagt, dass ich einmal wirklich in jenem berüchtigten Haus stehen würde, das heute ein Museum beherbergt, so wie ein Bed and Breakfast.

Im Hintergrund das gelbe Haus – es gehörte Andrew Nordens Bruder und war ebenfalls Schauplatz eines furchtbaren Mordes
Credit: Petra von Straks, September 2023

Der Lizzie Borden- Fall

Die Beteiligten:

Andrew Jackson Borden – Vater

Abby Borden – Stiefmutter

Emma Leonora Borden – Schwester

Bridget Sullivan – Dienstmädchen

John Vinnicum Morse – Onkel mütterlicherseits

Sarah Anthony Borden (geborene Morse) – leibliche Mutter

Der Fall:

Jeder Mord hat eine Vorgeschichte.
Und mit dieser will ich auch beginnen:
Emma und Lizzie Borden entstammten der ersten Ehe des Vaters mit Sarah Anthony Morse. Die leibliche Mutter starb im März 1863 als Lizzie knapp drei Jahre alt war und Emma übernahm die Erziehung der kleinen Schwester.
Emma, die noch lebhafte Erinnerungen an die Mutter hatte, nahm es daher nicht gut auf, als der Vater bereits 1865 wieder heiratete. Abby war die Tochter eines Hausierers und mit knapp vierzig eigentlich für die damalige Zeit als Ehefrau nicht mehr vermittelbar. Umso größer wohl das Glück der eher unscheinbaren, vierschrötigen Frau, den wohlhabenden Andrew Borden als Ehemann zu bekommen.

Dass dies viel Arbeit und feindlich gesinnte Stieftöchter einschloss, nahm sie wohl als normale Härte hin.

Allerdings gab es nicht nur zwischen der Stiefmutter und den Töchtern steigende Spannungen – die ganze Familie war betroffen.

Andrew Borden – tödlicher Geiz?

Andrew Borden hängt bis heute der Ruf eines Knausers an. Obwohl er Dank Immobiliengeschäften und geschickter Geldanlage ein ordentliches Vermögen angesammelt hatte (er war zum Zeitpunkt seines Todes mehrere Millionen Dollar in heutigem Wert reich), weigerte er sich, dem Wunsch der Töchter zu folgen und ein Haus im Viertel The Hills zu kaufen, sondern blieb lieber im bescheidenen Haus in der Nähe seiner Arbeitsstätten.

War er aber wirklich ein Knauser? Er war sicherlich sparsam, aber er finanzierte Lizzie eine Europareise und Emma ein Jahr auf dem College. Im Haus selbst ließ er eine noch funktionierende Zentralheizung einbauen. Außerdem setzte er beiden Töchtern Aussteuern aus und gab ihnen Taschengeld.
Zu einem heftigen Streit kam es zwischen den Töchtern und dem Vater, als Andrew Borden der Schwester seiner Frau, die in finanzielle Schieflache geraten war, deren Haus abkaufte, es seiner Frau Abby überschrieb und diese das Haus wiederum ihrer Schwester mietfrei zur Verfügung stellte.
Emma und Lizzie verlangten daraufhin einen Ausgleich vom Vater. Borden verkaufte ihnen daraufhin ein anderes Haus zu einem symbolischen Dollar. Von diesem Haus hätten sie die Mieteinnahmen behalten können. Da sie aber nicht sonderlich erfolgreich als Vermieterinnen waren, verkauften sie dem Vater das Haus kurz darauf für 5000 Dollar (heute 163.000 Dollar) zurück.

Trautes Heim – Glück allein … oder doch nicht ganz?

Eine weitere Auseinandersetzung führte wenige Wochen vor den Morden zu einem verlängerten Aufenthalt der Schwestern in Bedford. Nachdem sie nach Fall River zurückgekehrt waren, beschloss Lizzie allerdings, nicht gleich wieder in das elterliche Haus zurückzukehren, sondern zog für ein paar Tage in eine Mietunterkunft am Ort.
Vier Tage vor den Morden kehrte sie zurück.

Die Spannungen zeigten sich auch für Außenstehende darin, dass Gäste der Schwestern nicht im Salon der Familie empfangen wurden, sondern in einem der Zimmer im oberen Stockwerk.
Auch nahmen sie nur selten die Mahlzeiten gemeinsam mit den Eltern ein.

Im Mai 1892 war es im Übrigen zu einem schwerwiegenden Zwischenfall gekommen: Lizzie hatte für ein paar Tauben einen Taubenschlag anfertigen lassen. Der Vater – überzeugt, dass die Tauben Nachbarskinder zur Jagd auf seinem Grund und Boden animieren würden – schlachtete die Vögel.
Lizzie war – verständlicherweise – außer sich.

Auftritt Onkel Morse: Der Bruder der Mutter war am Vortag der Morde in Fall River eingetroffen, um Geschäftliches mit seinem ehemaligen Schwager zu besprechen. Anders als geplant, blieb Morse über Nacht und das, obwohl es am Vorabend zu einem lautstarken Streit zwischen den Männern gekommen war.
Worum es bei dem Streit ging, ist bis heute unbekannt.

Die Sache mit dem Hammel
Wenige Tage vor den Morden, und kurz nach der Rückkehr Lizzies ins Haus, kam es zu einem merkwürdigen Zwischenfall: die ganze Familie erkrankte schwer. Erbrechen und andere Zeichen einer Vergiftung suchten die Bordens heim.
Da Andrew kein beliebter Mann war in Fall River, mutmaßte Abby, es müsse sich um einen Vergiftungsversuch gehandelt haben. Borden informierte die Polizei, zog seine Anzeige aber kurz danach zurück, da er wohl davon ausging, dass man den Täter sowieso nicht fangen würde.
Wahrscheinlich ist sowieso wohl eher, dass es sich um eine Lebensmittelvergiftung gehandelt hat, da der Hammel zu lange und unsachgemäß aufbewahrt worden war.

Die Situation eskaliert

Die häusliche Situation war also an jenem 4. August 1892 auf dem Siedepunkt.

Wenn der Tag auch ganz normal begann …

Andrew Borden begab sich am frühen Morgen an seinen Arbeitsplatz, nachdem alle zusammen (außer Emma, die in Fairhaven bei einer Freundin war) mit Onkel Morse gefrühstückt hatten, Danach hatten die Männer noch eine Stunde lang gesprochen, bis Morse um 8:48 Uhr das Haus verließ, um seine Nichte im Ort zu besuchen.

Während Abby das Dienstmädchen Bridget (von den Schwestern „Maggie“ genannt), dazu vergatterte, alle Fenster innen und außen zu putzen, variieren Lizzies Angaben zu dem, was sie in der Zeit gemacht haben will. Mal war sie in der Scheune, dann wieder will sie Taschentücher gebügelt haben.
Abby hingegen ging zwischen 9:00 Uhr und 10:30 Uhr nach oben und machte wie jeden Tag Onkel Morse Gästezimmer im ersten Stock.
Wie die forensische Untersuchung ergab, wurde sie nicht hinterrücks getötet, sondern sah ihrem Mörder ins Gesicht. Der erste Schlag mit dem Beil traf sie an der Schläfe. Dadurch drehte sie sich und fiel flach auf den Bauch. Weitere 17 Schläge auf den Hinterkopf erfolgten.

Wer könnte das nun getan haben?
Bridget das Dienstmädchen? – Sie hatte ein Alibi, denn sie stand während des Fensterputzens draußen und schwatzte zeitweise mit einer Nachbarin zur fraglichen Zeit.
Lizzie? Wohl schon eher, denn niemand sah sie zur fraglichen Zeit …

Um 10:30 Uhr kehrte Andrew Borden vorzeitig von der Arbeit zurück. Wie Bridget fühlte auch er sich immer noch nicht gut. Verwundert stellte er fest, dass sein Schlüssel die Haustüre nicht öffnete und klopfte. Darauf erschien Bridget und musste einige Kraft aufwenden, bevor sie fluchend die blockierte Tür zu öffnen vermochte. Sie sagte später aus, dass sie in dem Moment Lizzie habe lachen gehört. Das Lachen sei von der Treppe im ersten Stock her gekommen.
Ein wichtiger Punkt, denn wie ihr auf dem Foto sehen könnt, konnte man von der Treppe ins Gästezimmer schauen und hätte so die tote Abby sehen müssen…

Blick von der Treppe zu jener Stelle, an der Abby lag
Credit: Petra von Straks, September 2023
Weiter entfernter Standort
Credit: Petra von Straks, September 2023

Nachdem Borden die mitgebrachte Post im Salon durchgegangen war, begab er sich ins Wohnzimmer, um einen kurzen Schlaf zu halten. Er fragte Lizzie, wo Abby sei, woraufhin diese antwortete, ein Bote sei gekommen und habe eine Nachricht gebracht, Abby solle zu einer kranken Freundin kommen. (Unnötig zu sagen, dass es weder einen Boten, noch eine kranke Freundin gab … Wie sehr man im Nachgang auch suchte, es fand sich niemand)

Ahnungslos über das, was direkt einen Stock über ihm war, legte er sich auf seine Couch.

Sullivan behauptete nachher, sie habe ihm aus den Stiefeln geholfen und seine Hausschuhe angezogen, was von den Tatortfotos widerlegt wird, denn dort trägt er eindeutig seine Stiefel. (Man kann hier vielleicht auch argumentieren, dass sie ihre Aussage in einer absoluten Ausnahmesituation machte und sich einfach geirrt hatte.)

Danach begab sich Sullivan nach oben in den obersten Stock, wo sie ihr Zimmer unter dem Dach hatte.

Bridget Sullivan Schlafzimmer in seinem heutigen Zustand. An der Wand Fotos aus ihren letzten Jahren, die ihre Familie dem Museum überlassen hat.
Credit: Petra von Straks, September 2023

Sie war noch immer von der Vergiftung geschwächt und wollte sich nach dem Fensterputzen in der Augusthitze erholen. Um 11:10 Uhr hörte sie Lizzie von unten rufen. „Maggie, komm schnell runter. Vater ist tot. Jemand ist reingekommen und hat ihn umgebracht.“

Bridget rannte nach unten und fand den toten Andrew Borden, der zehn oder elf Mal mit einem Beil auf den Kopf geschlagen worden war. Die Attacke konnte nur wenige Minuten zurückliegen, denn die Wunden bluteten noch.

Dr. Bowen, der herbeigerufene Hausarzt, konnte nur noch den Tod feststellen.

Was aber stellte Lizzie Borden derart unter Verdacht, dass man sie festnahm und zehn Monate inhaftierte, während sie auf ihren Prozess wartete?
Nun, zuerst hatte sie behauptet,
– draußen gewesen zu sein und ein Stöhnen oder einen Aufschrei gehört zu haben.
– Dann wieder sagte sie, gar nichts gehört zu haben. Auch der Polizei gegenüber kam sie mit der Geschichte, dass
– Abby zu einer kranken Freundin gerufen worden sei, was sich umgehend als Lüge entpuppte. Dann wieder sagte sie,
– Abby sei zwischenzeitlich zurückgekommen.
Die Nachbarin Mrs Churchill und Bridget, die nach Abby gesucht hatten, schickte Lizzie mit der letzteren Geschichte nach oben, wo sie die Tote bereits von der Treppe aus sehen konnten.

Man befragte im Folgenden Lizzie, durchsuchte auch oberflächlich ihr Zimmer, doch sie selbst wurde nicht nach Blutspuren untersucht. Einen Bottich mit blutiger Kleidung ließen die Polizisten unangetastet, da Lizzie angab, es sei durch Menstruationsblut verschmutzt.
Im Keller fand man zwei Beile. Eines davon mit zerbrochenem Griff. Offensichtlich hatte jemand versucht, es mit weißer Asche zu reinigen.
Aufgrund der Vergiftungserscheinungen bei der Familie, führte man eine Autopsie durch, da man davon ausging, dass auch Gift mit im Spiel sein könnte. Es fand sich jedoch keines.

Alice Russell, eine Freundin der Schwestern, blieb über Nacht mit ihnen im Haus und Onkel Morse bezog eines der Gästezimmer unter dem Dach. Emma, die in Fairhaven eine Freundin besuchte, wurde durch ein Telegramm nach Fall River zurückgerufen.
Ein wachhabender Polizist beobachtete Lizzie, die sich in der Nacht an der Spüle zu schaffen machte, allerdings konnte er nicht genau sehen, was sie da tat.

Am 5. August versuchte Onkel Morse, das Haus zu verlassen, wurde aber sofort von einem Mob bedrängt und musste von der Polizei ins Haus zurückbegleitet werden.
Am nächsten Morgen sah Russell, dass Lizzie ein Kleid auseinanderriss und es zu verbrennen versuchte. Sie habe es mit brauner Farbe verschmiert und könne es nun nicht mehr tragen, erklärte sie.

Am 8. August machte Lizzie ihre erste Zeugenaussage. Dies entsprechend dem Gesetz ohne Anwalt. Allerdings unter dem Einfluss von Morphium, was sie beeinträchtigt haben dürfte.

Ihre widersprüchlichen und auch lückenhaften Aussagen führten zu ihrer Inhaftierung.

Der Prozess begann am 5. Juni 1893.

Einer ihrer größten Fehler war wohl die Aussage, dass – nachdem Sullivan sie mit ihrem Vater alleine gelassen habe – sie in die Scheune gegangen sei. Eine Überprüfung ergab, dass die Scheune staubig war, aber nur die Abdrücke der Schuhe der Polizisten zu finden waren.

Die Schädel der Opfer wurden bei dem Prozess vorgeführt. So konnte demonstriert werden, dass es sich bei dem Tatwerkzeug um ein Beil handeln müsse.

Das Gericht war eindeutig auf Lizzie Seite. Der vorsitzende Richter war vom ehemaligen Gouverneur bestellt worden. Eben jenem ehemaligen Gouverneur, der jetzt Lizzies Anwalt war. Nach Ende des Prozesses erhielt Lizzie ein Foto der Geschworenen mit deren Unterschriften und Glückwünschen.
Schon recht ungewöhnlich, könnte man sagen …

Welch Wunder – Lizzie wurde zwar freigesprochen, doch in den Augen der Bürger von Fall River blieb sie nicht nur die Hauptverdächtige, sondern die Mörderin.

Als sie zum ersten Mal nach dem Prozess in die Kirche ging, musste sie feststellen, dass alle Plätze um sie herum freiblieben. Es war das letzte Mal, dass sie in ihre gewohnte Pfarrkirche ging.

Kurz nach dem Prozess kaufte Lizzie mit ihrem Erbe ein Haus in der von ihr schon immer begehrten Wohngegend „The Hill“ in Fall River und benannte es in „Maplecroft“ um. Sie wohnte dort eine zeitlang mit ihrer Schwester.
Da sie in der Gesellschaft nicht mehr willkommen war, umgab sie sich dort mit Schauspielern, die seinerzeit einen kaum besseren Ruf als Prostituierte hatten.
Auch weiterhin kam keine Ruhe in ihr Leben, denn 1897 wurde sie in Providence beim Ladendiebstahl erwischt. (Es heißt, sie habe schon vorher gestohlen. Andrew Borden habe aber immer stillschweigend bezahlt.)

Im Jahr 1905 kam es zum endgültigen Bruch zwischen den Schwestern nach einer Party, die Lizzie für die Schauspielerin Nance O’Neill gegeben hatte.
Emma und Lizzie sahen sich danach nie mehr.

Emma starb am 1. Juni 1927 an den Folgen einer Gallenblasenoperation. Sie war nur 66 Jahre alt geworden. Genau neun Tage später starb ihre Schwester in einem Pflegeheim in Newmarket/ New Hampshire. Sie war aus gesundheitlichen Gründen dorthin gezogen, aber auch, weil sie nach der Veröffentlichung eines weiteren Buches über die Morde der Aufmerksamkeit zu entkommen hoffte.

Beide Schwestern wurden Seite an Seite im Familiengrab auf dem Oak Grove Cemetery beigesetzt.

Grab der Familie
Credit: Petra von Straks, September 2023
Lizzie hatte kurz nach dem Prozess aus unbekannten Gründen ihren Vornamen in „Lizbeth“ geändert.
Credit: Petra von Straks, September 2023

Bei ihrem Tod hinterließ Lizzie Borden ein Vermögen von rund 6 Millionen Dollar (nach heutigem Wert). Sie setzte einen Teil des Geldes für die anhaltende Pflege des Grabes ihres Vaters ein und hinterließ dem Tierschutz in Fall River eine große Summe. des Weiteren wurden mehrere entfernte Familienmitglieder bedacht.

Weder Emma noch Lizzie haben je geheiratet. Es gab Gerüchte, Lizzie sei von ihrem Vater missbraucht worden, und habe ihn deswegen getötet. Dafür gibt es allerdings keine Beweise und es kam auch nie zur Sprache.

Interessanterweise gab es einen weiteren Mordfall und zwar im Nachbarhaus der Bordens …

Der Ludwig Borden Mordfall

Hier wohnte Andrew Borden Onkel mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern
Credit: Petra von Straks, September 2023

Andrew Bordens Onkel Ludwig wohnte mit seiner Familie im direkten Nachbarhaus. Insgesamt war er vier Mal verheiratet.
Seine zweite Ehefrau, Eliza Darling Borden, litt nach der Geburt des dritten Kindes unter schweren Depressionen, die dazu führten, dass sie 1848 versuchte, die drei Kinder in der Zisterne im Keller des Hauses zu ertränken. Eines der Kinder konnte allerdings entkommen. Im Anschluss schnitt sie sich selbst die Kehle durch.

Deswegen heißt es im Borden Haus, dass dort noch immer die ermordeten Kinder spukten …

Aber auch ohne Spukerscheinungen sind diese Geschichten bis heute mehr als nur interessant.




Der König, der niemals einer war – Beatrice Borromeo Casiraghi und der Mord auf der Île de Cavallo

Wir kennen Beatrice Borromeo Casiraghi in Deutschland vor allem als Schwiegertochter von Prinzessin Caroline von Hannover. Die meisten wissen, dass sie Markenbotschafterin für Dior ist und immer umwerfend aussieht. Ob privat in Jeans und weißer Bluse oder beim großen Auftritt wie dem Rosenball in Monaco.

Jetzt aber hat sie einmal mehr ihr eigentliches Können gezeigt, nämlich mit der Dokumentation „Der König, der nie einer war“, die als Kurzserie derzeit bei Netflix gestreamt werden kann.

Il Principe – Der Fürst

Nicht ohne Grund hat Borromeo diesen Titel gewählt, der sich zwar mit dem True Crime- Fall des Mordes am Studenten Dirk Hamer befasst, aber tatsächlich der Titel des weltberühmten Buches von Niccolò Machiavelli ist, indem er in einem Lehrbuch den idealen Herrscher beschreibt.

Seinen doppelten Twist bekommt der Titel der Reihe dadurch, dass Vittorio Emanuele heute König von Italien wäre, gäbe es dort noch eine Monarchie.

Tatsächlich ist Vittorio Emanuele di Savoia, wie sein richtiger Name lautet, eher eine tragisch/ umstrittene Gestalt.
Geboren am 12.2.1937 in Neapel, war er der letzte Kronprinz des Königreichs Italien. Sein Vater Umberto II war vom 9.5. bis zum 18.6.1946 letzter König Italiens. Dann kam ein Referendum, das den König vom Thron und die Familie aus Italien fegte.

Es dauerte dann bis zum Jahr 2002 bis er und seine Familie wieder italienischen Boden betreten durften.

Sein wechselvolles Leben brachte ihm eine glückliche Ehe (mit der Sportlerin Marina Doria) und einen Sohn (Emanuele Filiberto *1972).
Er wurde Starverkäufer mehrerer italienischer Firmen, was ihn bis nach Teheran führte, wo er sich mit dem Schah anfreundete (der bald das Exil mit ihm teilen sollte) und diesem 30 Helikopter verkaufte. Hier in Teheran heiratete Vittorio Emanuele seine Frau auch kirchlich wobei der Schah Trauzeuge war.

Sein Feriendomizil hatte der Prinz auf der französischen Île de Cavallo, von der aus man nach Italien schauen kann. Im französisch italienischen Grenzgebiet verbrachte er seine Ferien mit seiner Familie. Das Betreten italienischen Bodens blieb ihm und seiner Familie verboten.

Und hier war es auch, wo sich jene Tragödie abspielte, über die Borromeo in ihrer Doku berichtet und die am Ende das Leben zahlreicher Menschen auffraß.

Tod eines Studenten

Am 17. August 1978 fragte die italienische Clique von Birgit Hamer, ob diese sie bei einem Bootsausflug begleiten dürfe. Die Eltern verweigerten eine Zustimmung, wenn nicht Birgits Bruder Dirk mitkäme. Zunächst war die Clique aus Shiny Happy People nicht begeistert, den kleinen Bruder mitschleppen zu müssen, doch erwies sich Dirk bald als echte Bereicherung.
Der junge Mann sprach vier Sprachen und erwies sich als enorm sportlich. Sympathisch und intelligent, wurde er schnell Teil der Gruppe.
Mit drei Booten fuhr man zur Île de Cavallo und vergnügte sich beim Baden. Die Gruppe wusste, dass sie in der Insel angelegt hatte, auf der der Prinz von Savoyen lebte und man unterhielt sich über ihn.
Zu einem ersten Zusammentreffen kam es in einem Restaurant.
Heute sagen die Gruppenmitglieder, dass sie sich nicht gut benommen hätten in dem Restaurant. Sie hätten laut geredet und viel Wirbel veranstaltet, woraufhin der Prinz und seine Frau sich beschwert hätten. Es seien wohl auch Schimpfwörter gefallen.
Nach dem Essen kehrte man zu den Booten zurück.
Nun aber schlug das Schicksal zu: ein Sturm kam auf und die Wellen machten ein Auslaufen unmöglich. Die jungen Leute beschlossen, die Nacht auf ihren Booten schlafend zuzubringen.

Da die vorhandenen Boote nicht genug Platz boten, holte ein Teilnehmer eines der Boote des Prinzen, das dort vor Anker lag.
Die Gruppe verteilte sich auf die Boote und schlief ein.

Als plötzlich Schüsse fielen, waren alle hellwach. Die Hölle schien losgebrochen. Alle schrieen durcheinander, denn niemand wusste, von wo geschossen wurde und warum. Leuchtraketen wurden abgefeuert.
Was die jungen Leute nicht mitbekommen hatten: Der Prinz hatte, erbost von dem Diebstahl, sein Gewehr geholt und begonnen, auf die Boote zu schießen.

Und hier gehen die Berichte auseinander: Nicky Pende, ein junger Mann aus der Gruppe, stand auf seinem Boot, als er bemerkte, dass da ein Mann war, der ein Gewehr hatte und genau auf seinen Kopf zielte. Er warf sich zu Boden und schon fiel der erste Schuss. Im Versuch, das zu beenden, warf Pende sich auf den Prinzen und beide Männer fielen ins Wasser.

Nun ist die Frage: hat der Prinz vor dem Sturz ins Wasser noch mehr Schüsse abgegeben?

Tatsächlich hatte ein Schuss den schlafenden Dirk Hamer in die Oberschenkelarterie getroffen. Die Freunde, die sich um ihn versammelten, erkannten sofort den Ernst der Lage.
Nach einigem Hin und Her tauchten die Inselwachleute auf und man brachte den schwer Verletzten nach Frankreich ins Krankenhaus.
Die herbeigerufenen Eltern Hamer, beide Ärzte, sorgten für eine Überführung des Schwerverletzten ins Klinikum an ihrem Heimatort Heidelberg.
Dort wurde dem jungen Mann ein Bein amputiert. Aber auch das rettete ihn nicht mehr. Nach 18 weiteren Operationen starb Dirk Hamer neunzehnjährig.

Bei seiner Beerdigung zog seine Schwester Birgit einen Ring von ihrem Finger und warf ihn ins Grab. Es war ihr Schwur, für Gerechtigkeit zu sorgen.

Der Prinz seinerseits wurde verhaftet und in Untersuchungshaft gebracht. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die französischen Behörden praktisch keine Ermittlungsarbeit leisteten. Es wurden vom Meeresgrund Patronenhülsen gesichert und – Tage später – das Gewehr des Prinzen. Aber das war’s dann auch.
Bei den Vernehmungen unterschrieb der Prinz ein Schuldeingeständnis, welches er aber später wieder zurückzog und behauptete, jemand anderer müsse den tödlichen Schuss abgegeben haben, da er selbst nach dem ersten Schuss ins Wasser gerissen worden sei.
Einer aus der Gruppe hatte eine Pistole, die auch nach der Tat sichergestellt wurde, und aus der scheinbar ebenfalls geschossen worden war.
Diese Pistole verschwand allerdings und tauchte dann wieder auf.
Damit war sie als Beweismittel kaum noch zu gebrauchen.

Und nun machten die Eltern Hamer einen fatalen Fehler: sie verlangten von dem Prinzenpaar Geld. Die Prinzessin sprach von mehreren 100.000 Mark, während die Mutter Dirk Hamers nur davon sprach, Geld für den Genesungsfall verlangt zu haben, um ihren Sohn bezüglich der Spätfolgen abzusichern.
Dies war der Moment, an dem Birgit Hamer beschloss, ohne ihre Eltern weiter zu kämpfen, da sie diese Geldforderung für einen fatalen Fehler hielt.

Bei wem übrigens bei dem Namen „Hamer“ etwas klingelt – Dirk und Birgit Hamers Vaters Ryke Geerd Hamer, hat in den zurückliegenden Jahren mit seiner höchst umstrittenen „Germanischen“ Krebs“therapie“ Furore gemacht, die nach Meinung von Fachleuten inzwischen mehrere hundert Krebspatienten das Leben gekostet hat.

Als es nach Jahren endlich zu einem Prozess in Frankreich kam, waren die Spuren nachhaltig verwischt. Die Beweismittel hatten ihre Aussagekraft verloren und der Prinz von Savoyen brachte mehr als zwanzig Zeugen, die zwar keine Fakten beizutragen hatten (u.a. eine bekannte französische Schriftstellerin), die aber als Leumundszeugen für den Adligen offensichtlich Eindruck machten.
Ende der Prozedur: der Prinz wurde in allen Anklagepunkten freigesprochen bis auf einen: unerlaubten Waffenbesitz. Dafür bekam er fünf Monate auf Bewährung und konnte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.

Es vergingen Jahre, in denen der Prinz ans Geldverdienen ging. Sein Ruf war nachhaltig zerstört, doch das behinderte ihn nicht.
Sein Sohn Emanuele Filiberto wiederum machte sich bei „Dance with the Stars“ einen Namen.

2002 stimmten die Italiener ab und nun durfte die Familie Savoyen auch endlich wieder nach Italien zurückkehren. Sie behielten ihr Chalet in der Schweiz (wo wohl auch die Interview-Teile der Doku gedreht wurden), außerdem ihre Anwesen in Frankreich und bezogen die verloren geglaubten in Italien.

Der Schweizer Wohnort war übrigens dem Prinzen viele Jahre segensreich gewesen, denn hier hatte er sich vor der Strafjustiz verstecken können.

2006 nun erwischte es ihn weiteres Mal. Er wurde diesmal in Italien unter Anklage gestellt. Bestechung, Förderung der Prostitution, Wettbetrug … Ihm wurden Verbindungen zur berüchtigten Loge P2 nachgesagt (man erinnert sich an den Skandal rund um die Vatikan Bank) und natürlich zur Mafia. (Was zumindest zeitweise das gleiche war.) In den von ihm verantworteten Spielkasinos in Campione waren Automaten manipuliert worden und er hatte zahlungskräftigen Gästen das Gesamtpaket „Glücksspiel und Gespielinnen“ angeboten.
Das ganze ging aus wie das berühmte Hornberger Schießen: der Prinz wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Ein übler Nachgeschmack bleibt, denn in seinen abgehörten Telefonaten sagte er so aufschlussreiche Dinge wie: „Ich bin sehr mächtig geworden in Italien, mächtiger, als ich es je geglaubt hätte. Heute versohle ich jedem den Arsch, der mir auf die Nerven geht. Wer nicht spurt, der bezahlt, verstanden?
Was wiederum ins abstoßende Bild des Prinzen passt, von dem sich seit längerem sogar seine Schwestern losgesagt haben.

Was aber wurde aus Familie Hamer und ihrem Kampf um Gerechtigkeit?
Die Mutter des ermordeten Dirk Hamer war wenige Jahre nach ihrem Sohn an Krebs verstorben. Ihr Mann Geerd folgte ihr nach.
Zum Schluß blieben nur noch Birgit und ihr kleiner Bruder. Sie warteten auf den Tag, an dem endlich ihre Chance kommen würde.
Sie brauchten Geduld …

Tatsächlich tauchten nämlich im Zuge des Casino-Prozesses Aufnahmen des Prinzen aus der U-Haft auf, in denen er vor seinen Zellengenossen prahlte, dass er die französischen Gerichte verarscht habe. Er habe den Jungen erschossen, aber man habe ihm nichts beweisen können.
Mit den Aufnahmen vor Gericht konfrontiert, stritt Savoyen ab.
Die Bänder seien zusammengeschnitten worden und verfälscht. Das alles habe er nie gesagt.

Diese Position behielt er auch jetzt in der Doku bei. Sein Sohn Filiberto schlug in die gleiche Kerbe auf seiner kuscheligen Chalet-Couch.

Tatsächlich kämpften die Zeitungen, allen voran Il Fatto Quotidiano, für die Beatrice Borromeo Casiraghi als Journalistin arbeitet. Und ihnen gelang der Coup: nach zahllosen Klagen wurden ihnen die Bänder ausgehändigt. Und – Überraschung: Es waren nicht nur Tonmitschnitte, sondern Videos!

Nun konnte der Prinz nur noch behaupten, er könne sich nicht erinnern, jemand solche Sachen gesagt hau haben.
Und – verklagte die Zeitung sowie Beatrice Borromeo wegen Rufmordes.

Endlich kam die Stunde der Hamers: Das Gericht wies die Klage des Prinzen ab. Sowohl die Zeitung als auch Beatrice Borromeo und jeder andere durften von jetzt an laut und deutlich sagen, dass der Prinz den Mord gestanden hat.

Wer sich nun fragt, ob der Prinz neuerlich angeklagt wurde – Nein! Tatsächlich kann man nicht zwei Mal für das gleiche Vergehen/ Verbrechen angeklagt werden.
Und dieser Rechtsgrundsatz, der Rechtssicherheit für alle Bürger schaffen soll, gilt auch für einen Mörder: Vittorio Emanuele war bei seinem Prozess (s.o.) freigesprochen worden und damit war es das für ihn.

Künftig wird er eine fragwürdige Existenz unter fragwürdigen Existenzen führen können. Gemieden von jedem, der einen Hauch Anstand besitzt.

Aber – wie wir an diesem Fall sehen können – der Sieg der Gerechtigkeit ist nicht immer ein Triumph. Manchmal bleibt am Ende eines langen, alles auffressenden Kampfes – nur ein wenig … Ruhe.

Birgit Hamer hat übrigens zwei wunderbare Töchter und ist noch heute eng mit Beatrice Borromeos Familie, speziell ihrer Mutter, befreundet. Diese hatten sie über all die Jahre eng begleitet, unterstützt und ihr geholfen.

NACHWORT:
Vielleicht habt ihr meinen Text gelesen und gedacht: Hmmmm … irgendwie kommt mir jetzt dauernd Ex-König Juan Carlos in den Sinn.
Der ist ja auch so eine miese Gestalt …
Und was sage ich —- Tatsächlich gilt das Schlusswort des Prinzen Vittorio Emanuele in der Doku Juan Carlos und ihrer Jahre andauernden Männerfreundschaft, die sich erst verflüchtigte, als Savoyen die nicht standesgemäße Marina Doria heiraten wollte. Da habe Juan Carlos sich „nicht gut benommen“. Dabei habe der ja sogar seinen Bruder erschossen … Ja – über den könnte er eine Menge erzählen. Er habe von all dessen Skandalen nicht nur gehört. Nein! Er sei ja dabei gewesen!
Was für eine Überraschung…

FAZIT:

Die Doku ist unbedingt sehenswert. Geschickt konstruiert und mit Interviewpartnern, die mehr über sich preisgeben als sie wohl geplant haben.
Ein Stück Zeitgeschichte, das gesehen werden muss.
Ich bin sehr gespannt auf weitere Dokumentationen von Beatrice Borromeo Casiraghi.
Als nächstes werde ich mir ihren Film über die kalabrische Mafia „Lady Ndrangheta“ ansehen.
Sie hat auch ein neues Projekt in der Mache: Zusammen mit ihrem Mann Pierre arbeitet sie an einem Mehrteiler über die Familie Grimaldi im Stil von „The Crown“.

Man darf gespannt sein!






Jack the Ripper – Symphonie des Grauens

Der Diebstahl eines schlichten Damenhuts reißt die junge Modistin Elizabeth mitten hinein in jene Mordserie, die noch mehr als hundert Jahre später die Welt in Atem hält. Doch damit stört sie die Kreise des Londoner Polizisten Harris, für den sie bald mehr als nur kriminalistisches Interesse entwickelt. Dann aber geraten die Dinge außer Kontrolle und Elizabeth muss um ihr Leben kämpfen, denn sie hat ungewollt in ein Wespennest gestochen …

Mord in der Priory – Das Geheimnis der Florence Bravo

Was für ein seltsames Gefühl, wenn man nach so langer Zeit der Recherche und des Schreibens sein neuestes literarisches Kind auf die große Bühne entlässt.

Es sind viele Jahre her, dass ich zum ersten Mal mit der Geschichte der Florence Bravo in Berührung kam. Es geschah – wie so viele Begegnungen in meinem Leben – über ein Gebäude.
Nämlich die Priory in Balham/ London.

Hier seht ihr den Haupteingang des Hauses, das heute, in mehrere Apartments aufgeteilt, vermietet wird.
Der ehemals großzügige Garten, der Florence‘ ganzer Stolz war, ist mittlerweile wesentlich verkleinert worden.
Sie war eine begeisterte Gärtnerin und wenn ihr das Foto genau anseht, erkennt ihr am oberen Rand eine Eiche. Diesen Baum hat Florence noch selbst gepflanzt.

Wir werden im Mai nach London fahren und bei der Krönung dabei sein. Bei der Gelegenheit werde ich auch zur Priory fahren und mich dort umsehen. Vielleicht sieht mich ja ein netter Bewohner und lässt mich ins Haus, damit ich mal ein bisschen umschauen kann. Das wäre natürlich toll.

=========== ACHTUNG! SPOILERALARM!!!! ==========


Florence Bravo, geborene Campbell, verwitwete Ricardo (5. September 1845 – 17. September 1878) steht im Mittelpunkt meines Romans, der uns ins England der Königin Victoria führt.
Als Tochter eines erfolgreichen Unternehmers in Australien geboren, heiratete sie mit nur 19 Jahren den Offizier Alexander Ricardo.
Die Ehe geriet sehr bald in Schwierigkeiten. Ricardo entwickelte sich zum wirtschaftlich erfolglosen Alkoholiker, nachdem er die Armee verlassen hatte.
Florence verließ ihn, nachdem er ihr gegenüber gewalttätig geworden war. Um das Gesicht zu wahren, schickten ihre Eltern sie in ein Sanatorium in Malvern, wo die damals hochmoderne Wassertherapie praktiziert wurde.
Der wesentlich ältere, verheiratete Dr. James Gully leitete die Klinik und galt als einer der Pioniere auf dem Gebiet. Er stand unter anderem auch mit dem bei uns bekannten Pater Sebastian Kneipp in regem Austausch.

Bald entstand zwischen Gully und Florence eine enge Beziehung. Sie verliebten sich. Da beide verheiratet waren, schien es keine Lösung zu geben.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse im Hause Ricardo entspannten sich nach dem Tod von Alexanders Mutter, die ihrem Sohn ein stattliches Vermögen vererbte.
Ricardos Zustand hatte sich zwischenzeitlich weiter verschärft und er war nach Köln gezogen.
Die Scheidung, die Florence anstrebte, zerschlug sich, da Ricardo seine Zustimmung verweigerte. Noch bevor etwas geschehen konnte, starb er in Köln an den Folgen seiner Trunksucht.



Florence, die sein Vermögen erbte, war nun eine reiche, alleinstehende Frau. Sie mietete sich in Balham/ London in der stattlichen Villa The Priory ein.

Sie war nun frei für ihren Geliebten Dr. Gully, der in ein Haus schräg gegenüber der Priory einzog, nachdem er sich in seiner Klinik hatte auszahlen lassen.
Doch Florence wurde enttäuscht. Gully hielt zu seiner Ehefrau, die seit Jahren in geistiger Umnachtung in einem Sanatorium vor sich hinvegetierte.
Er weigerte sich, die Scheidung einzureichen.
Verzweifelt wurde Florence‘ Lage, als sie von Gully schwanger wurde und die Affäre durch einen Zufall bekannt wurde.

Da eine Abtreibung in einem Krankenhaus vollkommen unmöglich war, musste Gully selbst den Eingriff vornehmen.

So, körperlich wie seelisch verwundet, beendete Florence die Beziehung zu Gully. Dies allerdings war nicht ausreichend, um sie in die Gesellschaft zurückzuführen.
Dies versprach sie sich von einer neuerlichen Ehe.



Mit Charles Bravo, einem aufstrebenden jungen Anwalt, durch ihre Gesellschaftsdame Mrs Jane Cox bekanntgemacht, schien die Lösung all ihrer Probleme gefunden.

Die beiden trafen sich nur wenige Male und beschlossen schon, zu heiraten. Florence erhoffte sich gesellschaftliche Anerkennung und Bravo interessierte Florence‘ Geld.
Um reinen Tisch zu machen, gestand sie ihm die Affäre mit Gully, woraufhin er ihr gestand, dass er eine Geliebte sowie ein gemeinsames Kind hatte.
Unter dem Vorbehalt, dass er sich auch weiter um das Kind kümmern könne und sie jeglichen Kontakt zu Gully abbräche, planten die beiden die Hochzeit.

Bravo hatte sich offensichtlich ausgemalt, dass er nun das Sagen über Ehefrau, Haushalt und Vermögen haben würde. Als er aber bemerkte, dass nach einem erst vor Kurzem erlassenen Gesetz eine Frau das Vermögen selbstbestimmt behalten konnte, das sie in die Ehe mit eingebracht hatte, und dass Florence keineswegs vorhatte, ihrem künftigen Mann die Zügel zu überlassen, drohte die Hochzeit kurzzeitig zu platzen. (Es gab eine sehr unschöne Szene als Bravo bei Florence‘ Anwalt vorsprach und dessen Glückwünsche brüsk abwies, mit dem Satz „Ich will keine Glückwünsche – ich will Geld.“)

Es war Dr. Gully, der Florence riet, mir ihrem künftigen Mann zu verhandeln. So überließ sie ihm die Einrichtung der Priory, sowie deren Mietvertrag. Bravo erklärte sich einverstanden und so konnte am 8. Dezember 1875 in Kensington geheiratet werden.
Alles schien sich gut anzulassen. Florence wurde gleich zwei Mal nacheinander schwanger, doch verlor sie jedes Kind nach wenigen Monaten der Schwangerschaft.

Betreut von ihrer Gesellschaftsdame Mrs Jane Cox kam sie nach jeder Fehlgeburt nur langsam wieder zu Kräften.
Ihr Mann aber wurde immer intensiver von Eifersucht geplagt. Dass Dr. Gully nur wenige Schritte von der Priory entfernt wohnte, machte die Sache nicht besser.
Hinzu kam seine stets intervenierende Mutter, die sich von Anfang an gegen eine Hochzeit mit Florence gestellt hatte.

Bravo überzog seine Frau bald mit Drohungen, Streitereien und Gewalt. Seine Stimmungsschwankungen wurden unerträglich.
Die Rekonvaleszenz nach den Frühgeburten wurde von ihm eher unduldsam ertragen und er konnte gar nicht schnell genug ins Ehebett zurückkehren. Wobei Mrs Cox, die bei Florence nächtigte, um sich ständig um sie kümmern zu können, ihm ein steter Dorn im Auge war. Erst wenn Mrs Cox aus dem ehelichen Schlafzimmer auszog, konnte Charles wieder einziehen.

Als beide Frauen an der See kuren wollten, damit Florence sich erholen konnte, verweigerte Bravo seine Zustimmung zu der Reise. Mehr noch: er drohte damit, Mrs Cox zu entlassen. (Er hatte zuvor schon andere Dienstboten hinausgeworfen, was abermals zu Auseinandersetzungen führt hatte.) Geld war bei den Eheleuten ein ständiger Streitpunkt, zumal es für Charles Bravo offensichtlich ein Zeichen seiner Macht als Hausherr war.

Am 18. April 1876 gingen Florence und er gemeinsam nach London. Er hatte am Nachmittag Probleme beim Ausreiten, da das Pferd permanent bockte. Am Abend dann – nach einer heftigen Auseinandersetzung beim Essen – brach er mit Vergiftungserscheinungen zusammen.
Diverse Ärzte eilten an sein Krankenbett, unter anderem der Leibarzt von Königin Victoria. Doch sie alle konnten Bravo nur sagen, dass er innerhalb von Stunden sterben werde.
Er hatte kein Glück und starb nicht innerhalb von Stunden. Seine Agonie dauerte drei volle Tage. Heftiges Erbrechen, Krämpfe und Zeiten der Ohnmacht wechselten sich ab.

Nach seinem Tod kam es zu einer Anhörung zur Todesursache in der Priory, die ohne Ergebnis endete.
Doch seine Freunde und Familie gaben keine Ruhe. Sie waren sich sicher, dass Bravo ermordet worden war, und kämpften dafür, dass dies untersucht würde. Sie verdächtigten Florence.

Tatsächlich uferte die zweite Anhörung zu einem Beinahe- Prozess aus. Es wurden alle mögliche Zeugen gehört, unter anderem das Personal, Mrs Cox, Florence und Dr. Gully.
Alle schockierenden Details wurden ans Licht gezerrt, so auch die Abtreibung.
Die Anwälte der Gegenseite taten alles dafür, Florence Ruf in den Dreck zu ziehen. Es wurde so schlimm, dass die Geschworenen eingriffen und ihr Sprecher sich gegen die Vorgehensweise der Anwälte verwahrte.

Auch diese zweite Anhörung ging ohne Ergebnis zu Ende. Man kam zu dem Schluss, dass Charles Bravo ermordet worden sei, dass es aber keinerlei Beweise, oder auch nur Hinweise auf einen Täter gebe, die eine Anklage rechtfertigen würden.

Es war bitterer Lorbeer, der bei dieser Anhörung verteilt wurde.

Mrs Cox wanderte nach Jamaica aus, wo sie eine Erbschaft antrat. Dr. Gully lebte bis zu seinem Lebensende schräg gegenüber der Priory, zog sich aber vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück.
Florence, verfolgt von den Schatten der Vergangenheit, wurde ebenfalls zur Alkoholikerin wie ihr erster Mann. Der Vermieter der Priory hatte ihr gekündigt und sie hatte sich nach Southsea zurückgezogen.
Ihr Onkel kam aus Schottland, um sie mit sich zu nehmen, damit sie sich erholen konnte. Doch als er ankam, war sie bereits in hoffnungslosem Zustand. Von ihm und zwei Dienstmädchen umsorgt, starb Florence am 17. September 1878. Sie überlebte ihren zweiten Mann also gerade mal um zwei Jahre.

Was aus den anderen Beteiligten wurde, könnt ihr natürlich in meinem Buch nachlesen. Dort findet ihr auch Fotos, die ich an Originalschauplätzen aufgenommen habe.

LESEPROBE

Die letzte Schaufel Erde war gerade über dem kleinen Hügel umgedreht worden, als die vier Männer bereits den Sarg über das Loch hoben, um es sodann langsam herabzulassen.

Es musste kurz vor fünf sein, denn gerade hatten die Vögel begonnen zu zwitschern.

Der Wind rauschte im dichten Laub der umstehenden Bäume und der Umriss der St. Mary’ s Church erhob sich undeutlich am Horizont.

Ende September. Es würde nicht mehr lange dauern, und das Grün würde sich verlieren. Das Zwitschern würde enden.

Die kleine Frau in dem schwarzen Umhang – sie hielt ihn mit zwei Fingern zusammen und versuchte gleichzeitig, die Hände im Gebet zu verschränken – blickte in den dunklen Abgrund, der den Sarg aufgenommen hatte. Man konnte bereits riechen, dass der Herbst nahte. Im kühlen Nachtwind verlor sich der sanfte Duft von Astern und den letzten Rosen.

Sie sprach ein leises Vaterunser, währenddessen die Arbeiter – die Mützen in Händen, die Köpfe gesenkt – schweigend mitbeteten.

Als die Frau, deren Gesicht selbst ohne den Schleier nicht zu erkennen gewesen wäre in dieser nur von Fackeln erhellten Nacht, geendet hatten, hoben sie fast gleichzeitig die Köpfe, setzten ihre Mützen auf und begannen, die Erde in das Loch zurück zu schaufeln.

Einer von ihnen stand schon bereit mit der ersten Grassode, um diese sorgsam auf das frische Grab zu legen.

Sie würden sich in ein paar Wochen wieder darum kümmern, wenn das Grab sich gesenkt hatte.

Wie in stummem Gruß nickte die kleine Frau noch einmal in Richtung des Grabes, wobei nicht klar war, ob diese Geste nicht vielleicht den Arbeitern gelten mochte.

Dann wandte sie sich ab und bewegte sich scheinbar schwebend in Richtung der Kirchhofpforte mit dem kleinen Dach.

Der Himmel riss in der Ferne auf und das tiefe Anthrazit machte an jener Stelle einem matten Blau Platz.

Als sie sich dem Tor näherte, traten drei kleine Gestalten aus dem hölzernen Bogen.

Die kleine Frau hob eine Reisetasche an, auf die die drei Buben scheinbar aufgepasst hatten, und verließ sodann den Friedhof.

Jeder der Jungen hatte seinerseits eine Tasche oder einen kleinen Koffer.

„Es ist vorbei“, sagte sie verhalten, als wollte sie keinerlei Aufmerksamkeit mit ihren Worten erregen.

Die Jungen antworteten nicht, sondern gingen schweigend neben ihr her in Richtung der Dorfstraße von Buscot.

Gedenkstein auf dem Kirchhof von Faringdon

Florence ist fertig

Die Rohfassung der Florence ist fertig.
Das ist die große Neuigkeit der Woche.
Wenn ich zunächst auch gedacht hatte, es würde noch ewig weitergehen, kam der Schluss dann doch ganz plötzlich.

Mal ein ganze anderes Cover

Während der Nebel um unser Haus wallt, konnte ich Florence‘ Geschichte abschließen.
Es war eine traurige Lebensgeschichte, die man eigentlich niemandem wünscht.
Aber vielleicht auch in seinen Extremen ein exemplarisches Frauenleben der Zeit.

The end sucks …
Dieses Gefühl kennt wohl jeder Autor. Du hast die Geschichte beinahe zu Ende erzählt, musst aber beim Schluss immer noch etwas Besonderes leisten, damit sich die Leser an dich und deine Bücher erinnern. Und zwar so, dass sie Lust bekommen, mehr von dir zu lesen, denn es gibt ja nicht gerade wenige zum Schreiben Berufene da draußen.

Im Fall von Florence war es doppelt schwierig, denn ich musste eine gutes Ende finden, was vor dem Hintergrund, dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, nicht gerade einfach war.

Man leidet mit Florence durch alle Stadien ihres schwierigen Lebens und hofft mit ihr und für sie auf ein gutes Ende.
Nachdem die Anhörung abgeschlossen ist, so denkt man, sollte sie ein neues, besseres Leben habe anfangen können. Sich besinnen. Vielleicht mit ihrem Bruder William England verlassen. (Was er ihr auch angeboten hatte, denn er zog nach Abschluss des Skandals nach Australien) Eine Option wäre vielleicht auch gewesen, zu ihren Eltern nach Buscot zurückzukehren.
Nichts davon machte sie wahr.
Stattdessen kaufte sie ein kleines Haus in Southsea und soff sich zu Tode.

Man muss es so krass sagen, denn Florence Bravo starb langsam und qualvoll. Hatte sie zuvor auch schon ein auffälliges Trinkverhalten gehabt, so gab sie sich nach Ende der Anhörung komplett der Trunksucht hin.
In ihren letzten Tagen hatte sie aber auch die Stütze durch ein Familienmitglied – ihren Onkel James Orr, der von der besorgten Familie aus Schottland gerufen worden war, um nach Florence zu sehen und diese mit nach Schottland zu nehmen.

Als er in Southsea ankam, war allerdings schon alles zu spät. Er fand seine Nichte in einem desolaten Zustand. Ja, eigentlich schon fast tot. Sie war geistig umnachtet und körperlich am Ende.
Der Alkohol forderte seinen Tribut.
Ihre letzten Worte waren: „Save me!“ („Rette mich!“).
Er konnte es naturgemäß nicht.
James Orr blieb nur, die Tote nach Faringdon zurückzubringen (der Ort, zu dem Buscot, der Landsitz ihrer Eltern gehört), wo sie in einem unmarkierten Grab beigesetzt wurde.

Heute erinnert noch eine kleine Steinplatte daran, die aber dringend mal der Säuberung bedürfte. (Ich habe mir vorgenommen, wenn ich abermals dort hinreisen sollte, eine Bürste und Putzmittel mitzunehmen und den Stein von den Flechten sauber zu schrubben.)

Warum die Familie sich zu dieser Beisetzung entschied, konnte ich nicht herausfinden. Ich denke aber, man wollte – im wahrsten Sinne des Wortes – Gras über die Sache wachsen lassen. Zudem es auch keine Kinder gab, die zum Trauern an das Grab hätten gehen wollen.
Natürlich hätte es noch die Option einer Beisetzung an Charles‘ Seite gegeben, aber auch davon hat man abgesehen.

Nun aber zurück zu meinem Problem mit Florence‘ Ende:
Ich habe mich nämlich die ganze Zeit gefragt, in wieweit man einen solchen Ausgang den Lesern zumuten kann. Schließlich muss ich schon bei den Tatsachen bleiben und ihr Ende so vorstellen, wie es auch tatsächlich war: grausam!

Eine Zeitlang habe ich auch mit dem Gedanken gespielt, es tatsächlich umzudeuten, aber dies erschien mir doch nach einiger Überlegung nicht redlich.
Man kann in einem Roman, der auf wahren Ereignissen basiert, Dinge umstellen in ihrem zeitlichen Ablauf. Man kann die Handlungen umdeuten und die Charaktere den Gegebenheiten anpassen. Aber aus einem elenden Tod kann man kein Happy End zaubern.
Und ich hätte sie weiß Gott gerne mit ihrem geliebten James in den Sonnenuntergang reiten lassen.

Ich habe mich für eine andere Variante entschieden. Wie diese aussieht, werdet ihr bald persönlich sehen können, denn verraten will ich hier noch nichts …

Charles Bravos Grab auf dem West Norwood Cemetery
Prof. Robert Flanagan (Vorsitzender des Freundeskreises des West Norwood Cemetery und profunder Kenner des Friedhofs) und ich an einem sehr heißen Sommertag am Grab von Charles Bravo; Bob führte mich auch noch zu den Gräbern anderer Anhörungs- Beteiligter.

P.S. Ich wollte natürlich auch zu Charles Bravos Grab gehen und recherchierte, dass er auf dem West Norwood Cemetery begraben wurde. Als ich dort wegen der Lage des Grabes nachfragte, bekam ich Antwort von Prof. Flanagan, der mir mitteilte, dass ich das Grab nicht auf eigene Faust würde finden können. Er werde mich aber gerne persönlich hinführen.
Ich bekam von ihm aber nicht nur eine Begleitung zum Grab, sondern auch noch einen Rundgang über den Friedhof, wo er mir jede Menge historisch und künstlerisch wertvolle Grabmäler zeigte.
Im Zuge dieses Spaziergangs durfte ich auch den Erben der Doulton Porzellanmanufaktur kennenlernen, der gerade nach einem der Familiengräber schaute.
Mr. Doulton gestattete mir, das Innere eines der Mausoleen seiner Familie von innen zu fotografieren.

Ach – ich merke gerade, dass dies einen eigenen Post verdient hat.

Ich bitte um Geduld, aber ich verspreche: Ich werde über den West Norwood Cemetery ausführlicher schreiben!