
Credit: Molden Verlag
Wenn man denkt, man hat alles über Sisi gelesen, alles über sie in Erfahrung gebracht, dann taucht plötzlich ein Buch auf und man muss eine Sache neu bedenken.
In diesem Fall ist es der Tod der Kaiserin.
Was sollte es da nun Neues geben? Es wurden ja sogar die Schritte gezählt, die Sisi nach dem Anschlag noch ging, bevor sie an Bord der Fähre zusammengebrochen ist.
Was sollte Frau Sigmund also noch Neues anbieten können?
Tatsächlich tut sie es.
Sie hat nämlich nicht nur Sisis letzten Tagen und Wochen nachgespürt, sondern sie hat auch das Leben ihres Mörders Luigi Lucheni eingehend erforscht und dabei sehr Interessantes zu Tage gefördert.
Wenn man die Geschichte auch sicherlich nicht neu schreiben muss, so lernt man hier doch einiges zu der Atmosphäre des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem sich die Kaiserin bewegte.
Ich muss gestehen, dass erst die Lektüre von „Tatort Genfer See“ mir den vollen Umfang des Anarchismus im Europa des 19. Jahrhunderts vor Augen geführt hat.
Nun mag so mancher, der dies hier liest sagen: „Ach – was juckt mich der Anarchismus von damals?“
Recht hat er (oder sie) – nicht.
Tatsächlich habe ich bis zur Lektüre überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt, wie allumfassend die Bedrohung der Herrscher in dieser Zeit durch Anarchisten war.
Und die Anschläge richteten sich nun nicht nur gegen Herrscher, sondern es wurde einfach jeder ins Visier genommen, der sich gegen die Bewegung stellte. So wurde u.a. ein Lokal gesprengt, weil einer der Kellner gegen einen Anarchisten ausgesagt hatte.
Den Terroristen fielen Zaren und Könige, aber auch Arbeiter und Dienstboten zum Opfer.
Wie spannend nun zu lesen, wie sich die beiden Leben (Sisis und Luchenis) beinahe unvermeidlich aufeinander zu bewegten.
Wobei ich von Lucheni auch ein falsches Bild hatte. Ich hielt ihn für einen heruntergekommenen Verlierer, der sich mit Aushilfsjobs gerade so am Leben erhielt, kaum fähig, zu lesen oder zu schreiben.
Tatsächlich war er sehr belesen und intelligent.
Es war wohl ohne Zweifel dem Umstand geschuldet, dass er in Waisenhäusern aufwuchs und seine folgenden Pflegeeltern nur an dem Geld interessiert waren, das sie für ihn bekamen, dass er es im Leben nicht weiter brachte. Das Zeug zu Höherem hätte er wohl gehabt.
Wie so viele junge Männer ging er zum Militär und erwies sich dort als mutiger und guter Soldat. So gut, dass ihn ein ehemaliger Vorgesetzter nach Ende der Dienstzeit zu sich nahm und in seinem Haushalt beschäftigte.
Der Prinz und seine Frau waren ausnehmend zufrieden mit seinen Leistungen.
Und trotzdem entließen sie ihn …
Warum?
Lucheni hatte sich permanent mit den anderen Dienstboten angelegt. Sie sagten ihm nach, er täte als sei er etwas Besseres und weigere sich, ihm aufgetragene Arbeiten zu erledigen.
Irgendwann bleibt dem Prinzen keine andere Wahl und er wirft Lucheni raus.
Sigmund verfolgt nun Luchenis Weg, denn – und das überrascht – er tauschte weiterhin regelmäßig Brief mit seinen ehemaligen Herrschaften aus. Diese antworteten ihm stets, wenn sie auch seine Bitten um Wiedereinstellung ablehnten.
Ja – es ging sogar so weit, dass der Prinz Lucheni ein sehr gutes Leumundszeugnis ausstellte, als dieser wegen des Mordes an der Kaiserin vor Gericht stand.
All dies sind Themen und Fakten, die mir so noch gar nicht bewusst waren, bzw, die mein Bild der Situation abgerundet haben.
Es gibt aber durchaus auch Kurioses zu lernen: so zum Beispiel, dass nachdem das Gefängnis abgerissen wurde, in dem Lucheni sich 1910 erhängt hatte, ein Unternehmer seine Zelle aufgekauft hat und sie im Untergeschoss seines Hauses wiederaufbaute.
Jetzt hätte mich natürlich brennend interessiert, was aus dieser Sache wurde…
Übrigens hat Lucheni, der wohl ein vorbildlicher Gefangener war, in der Haft begonnen, sich mit der Kaiserin zu beschäftigen. Er las alles, was er über sie in die Finger bekommen konnte und stellte bald fest, dass sie Seelenverwandte waren. Selbst in ihren politischen Überzeugungen, die um die Jahrhundertwende wohl kein Geheimnis mehr waren, fand Lucheni sich wieder.
Seine Beschäftigung mit Sisi führte sogar dazu, dass er am Ende der Überzeugung war, Werkzeug des Schicksals gewesen zu sein, und Sisi ihren Wunsch zu sterben, erfüllt habe.
Wer mich kennt, weiß, wie sehr ich an Bildern interessiert bin. Je mehr desto besser.
Was das Buch von Sigmund angeht, so muss ich gestehen, dass sich nur schwarz/weiß- Bilder darin finden. Doch – überraschenderweise – hat mir das absolut nichts ausgemacht.
Tatsächlich ist das Ganze so gut und interessant aufbereitet, dass einem kaum auffällt, dass man keine Farbfotos hat. Außerdem kann Sigmund in ihrem Buch mit Dokumenten aufwarten, wie zum Beispiel dem Bericht der Leichenschau der Kaiserin, die ich so auch nicht (mehr) auf dem Schirm hatte.
So kann sie auch mit alten Mythen aufräumen, dass die Kaiserin ein Gebiss gehabt hätte (woran sich Rosa Albach- Rette, Romys Großmutter in ihren Memoiren erinnerte. Sie hatte die Kaiserin als junges Mädchen in Wien in einem Café gesehen.)
Zudem hatte Sisi wohl Ödeme in den Beinen, aber nicht in dem Ausmaß wie es oft kolportiert wird.
Ihr seht schon an diesen wenigen Punkten, wie informativ das Buch ist und auch wie spannend.
Von daher kann ich es nur jedem empfehlen, der sein Bild der Kaiserin abrunden will, beziehungsweise mehr über sie und die Zeit erfahren will, in der sie gelebt hat und gestorben ist.
FAKTEN:
Anna Maria Sigmund: Tatort Genfer See, Molden Verlagsgruppe / Styria Verlag 2020, 192 Seiten