Der Diebstahl eines schlichten Damenhuts reißt die junge Modistin Elizabeth mitten hinein in jene Mordserie, die noch mehr als hundert Jahre später die Welt in Atem hält. Doch damit stört sie die Kreise des Londoner Polizisten Harris, für den sie bald mehr als nur kriminalistisches Interesse entwickelt. Dann aber geraten die Dinge außer Kontrolle und Elizabeth muss um ihr Leben kämpfen, denn sie hat ungewollt in ein Wespennest gestochen …
Das ist eine Frage, die ich mir oft gestellt habe und erst beantworten konnte, nachdem ich ein paar Titel von Philippa Gregory und Hilary Mantel gelesen hatte.
Zunächst darf es keine historischen Schnitzer geben. Also wenn Anne Boleyn gehängt wird, solltest du das Buch getrost wegwerfen. Außer es ist eine Story à la „Abraham Lincoln – Vampirjäger“ (Seth Grahame- Smith), dann passt es schon wieder.
Aber um diese Titel kümmern wir uns heute nicht, sondern um ernsthaft historische Romane.
Denkvoraussetzung:
Es handelt sich um einen Roman
Niemand hat die Kerze gehalten
Die Geschehnisse liegen mehr oder minder lange zurück
Es handelt sich um einen Roman
Warum taucht 1. zweimal auf? – Damit du es nicht vergisst!
Ein historischer Roman leitet gerne in die Irre, denn er gibt vor, etwas zu sein, was er nicht ist, nämlich eine Ansammlung von Tatsachen.
Im Vergleich zum komplett erfundenen Roman führt uns der historische Roman ab Seite 1 in die Irre, denn wir kennen zumindest einen Teil der handelnden Figuren als (einst) real existierende Menschen.
Wir haben über sie gelesen, Dokumentationen gesehen usw.
Wir wissen, dass sie wirklich gelebt haben.
Und damit beginnt die Schwierigkeit, abzugrenzen was wahr ist und was erfunden.
Zumal gute Autoren es durchaus schaffen, in ihrem Schreiben Realität vorzutäuschen.
Nicht nur, weil die Figuren an sich glaubwürdig sind, sondern weil eine Autorin wie zum Beispiel Hilary Mantel auch noch im Präsens schreibt und ganz aus der Sicht ihres Helden. Da gibt es dann nur noch ein Paar Schuhe, in das die LeserInnen steigen können – in dem Fall das von Thomas Cromwell. („Tudor“- Trilogie)
Wer solch subjektive Äußerungen liest, kann eigentlich schon fast nicht mehr anders, als davon ausgehen: „So war es wirklich.“
Das dürfte u.a. den ungeheuren Erfolg von Mantel ausmachen. Von ihrem profunden historischen Wissen mal abgesehen…
Eine ähnliche Technik findet sich übrigens schon in der mittelalterlichen Literatur selbst, wenn der Dichter den Wahrheitsgehalt seiner Aventiuren damit unterstreicht, dass er diese von einem „Augenzeugen“ hat, oder sie einem alten Manuskript entnommen hat, das natürlich von einer absolut unantastbaren Quelle stammt.
Umberto Eco verbeugt sich übrigens zu Beginn des Romans „Im Namen der Rose“ vor seinen Vorgängern, indem er ebenfalls einen solchen „Beleg“ vorausschickt. (Der Erzähler der Rahmenhandlung berichtet, auf welchen Wegen ihm die Handschrift zukam, welche die Lebenserinnerungen des Mönchs Adson von Melk beinhaltet, die er nun dem Publikum zugänglich macht, und die den Hauptteil von Ecos Roman ausmacht.)
Nun haben wir gesehen, welche Kunstgriffe AutorInnen seit jeher anwenden, um die Glaubwürdigkeit ihrer Texte zu belegen.
(Wobei die meisten modernen AutorInnen sich damit begnügen, in ihrem Vorwort auf ihr Quellenstudium zu verweisen.)
Komm wieder auf den Punkt, meine Liebe!
Was macht aber nun wirklich einen guten historischen Roman aus?
Eine tolle Story natürlich!
Die Figuren müssen zudem nachvollziehbar sein. Oder wir müssen uns dies wenigstens einbilden dürfen.
Oder was denkt Ihr, wieso so wenige Romane bei den Neandertalern spielen?
Exakt.
Doch auch hier müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, dass es sich dabei um eine Vorspiegelung falscher Tatsachen handelt.
AutorInnen, zumal die guten, schaffen es, menschliches Handeln nachvollziehbar zu machen, ohne dabei unsere moderne Brille zu tragen.
Wenn wir über die Verfolgung von (wahlweise) Katholiken, Protestanten und Abweichlern im Tudor- England lesen, empören wir uns gerne ob der herrschenden Intoleranz.
Sparen dabei aber aus, dass ein Herrscher in der Vergangenheit sich wahrhaftig als Vater seines/ Mutter ihres Volkes empfunden hat.
Und wenn jemand drohte, sein Seelenheil aufs Spiel zu setzen, weil er mit einer anderen Religion liebäugelte, war der Landesvater/ die Landesmutter praktisch gezwungen, durchzugreifen. Zum einen, um diese Person zu retten, und zum andern, um jene zu schützen, die ebenfalls „vergiftet“ werden könnten.
Denn es stand nicht weniger auf dem Spiel als die ewige Verdamnis. Und auch der Herrscher/ die Herrscherin konnte sicher sein, dass er/ sie bei Nicht- Durchgreifen selbst in Erklärungsnot vor Gott käme.
Ein guter Autor/ eine gute Autorin stellen mir diesen Umstand vor Augen.
Und dies führt mich nun zu jenem Punkt, der für mich persönlich bei einem historischen Roman am wichtigsten ist:
Er muss mir Dinge glaubhaft machen, erklären, die ich vorher nicht verstanden habe.
Hier mein Beispiel:
Als Anne Boleyn hingerichtet wurde, ließ König Henry VIII extra einen Scharfrichter aus Frankreich kommen, um ihr einen schmerzlosen Tod mit dem Schwert zu verschaffen.
Nach der Exekution aber wurde ihr Körper – in Ermangelung eines Sarges – von ihren Damen in einen Kasten gelegt, der eigentlich zur Aufbewahrung von Pfeilen gedient hatte.
Es gab keinen Sarg!
Ich habe diesen Punkt nie verstanden.
Warum schafft man es, einen Scharfrichter den weiten Weg aus Frankreich kommen zu lassen, der noch dazu sehr kostspielig ist, und hat dann noch nicht mal einen Sarg? Ignoranz? Herabwürdigung der Toten?
Ich wusste es nicht.
Bis Hilary Mantel es mir erklärt hat. (Oder besser gesagt – Thomas Cromwell es mir erzählte…)
Man hatte es schlicht und einfach vergessen. Schlechte Vorbereitung. Und dazu die Überlegung, dass die Hinrichtungen gar nicht wirklich stattfinden werde.
War es wirklich? Ich weiß es nicht. Hilary Mantel weiß es nicht. Aber – Es ist eine verdammt gute Erklärung für einen historischen Fakt.
Ich selbst habe diesen Ansatz bei meinem Jack the Ripper- Roman „Jack the Ripper – Symphonie des Grauens“ (unter dem Pseudonym Elizabeth Bellamy) verwendet.
Am 30. September 1888 wurde zunächst Elizabeth Stride ermordet. Dies scheinbar in großer Eile, denn es gab so gut wie keine Verstümmelungen.
Eine knappe dreiviertel Stunde später entdeckte man dann die Leiche von Catherine Eddowes. Bei ihr wurden nun diverse Verstümmelungen festgestellt.
Dieser Doppel- Mord gibt seit über 130 Jahren Rätsel auf.
Ich kenne die Erklärung nicht, aber in meinem Roman liefere ich folgende mögliche Lösung: Stride wurde vom Ripper aus dem Weg geräumt, weil sie herumposaunt hatte, dass sie wisse, wer der Ripper sei. Wirklich in sein Schema passte aber das zweite Opfer jener Nacht. Catherine Eddowes wollte er aus Lust töten.
Da er durch den ersten Mord nicht die ausreichende Befriedigung erfahren hatte, musste Eddowes auch noch sterben.
Eine – wie ich meine – gute Erklärung.
Wir sehen also historische Ereignisse Dank des Romans in einem neuen Licht. Wir beginnen Dinge zu verstehen, die uns zuvor so zumindest nicht bewusst waren.
Wirklich gute historische Romane transportieren uns in eine (weit) zurückliegende Vergangenheit und schaffen es dennoch, dass wir beim Lesen das Gefühl haben, diese Welt wahrhaftig zu erfahren.
Und um wie vieles lieber kehren wir dann in unsere Gegenwart zurück…
Sollten wir diese Gegenwart nun allerdings nicht so sehr genießen, wie angemessen wäre, können wir jeder Zeit wieder unsere Zeitmaschine besteigen…