Zwei Leichen – Ein Rätsel

Zwei Leichen – Ein Rätsel

Kaiserlicher True Crime in der österreichischen Provinz

Credit: Kral Verlag

Wir alle kennen die Geschichte vom todunglücklichen österreichischen Thronfolger Rudolf.
Als Kind von Erziehern drangsaliert und beinahe in den Untergang geschickt. In hündischer Liebe der immer fernen Mutter, Kaiserin Elisabeth („Sisi“) ergeben und verheiratet mit der belgischen Königstochter Stephanie.

Wir wissen auch wie die Geschichte endete: menschenfreundlich und liberal gesinnt (wieder nach dem Beispiel der Mutter), überwirft der Prinz sich mit dem übermächtigen Vater, Kaiser Franz Josef, und sucht schlussendlich sein Heil im Untergang. An seiner Seite: seine letzte große Liebe: Mary Vetsera.

So weit – so charmant – so unwahr.

„Cold Case Mayerling“ macht nun ein ganz anderes Szenario auf.
Der Autor Helmut Reinmüller ist Polizist im Ruhestand und hatte sich in seinen aktiven Zeiten in der Ermittlungsgruppe befunden, die den Grabraub Mary Vetseras aufzuklären hatte.

Dieses faktenorientierte Behandeln des Stoffes führt zu einem vollkommen neuen Bild, das sich einem auftut.

Reinmüller stellt zunächst alle Beteiligten vor, bis hin zum Kammerdiener. Er verfolgt die Abläufe kurz vor der Tat aus der Perspektive eines jeden Beteiligten, was einem auch die Widersprüche bzw. Lücken in den Aussagen sehr deutlich vor Augen führt.

Ich war von der ersten Seite an von der akribischen Recherche begeistert, die Reinmüller zu seinem Buch betrieben hat. Er tappt deswegen auch kein einziges Mal in die Falle, jenen Mythen auf den Leim zu gehen, die sich mit der Zeit rund um den Fall gegründet haben.

Am besten fand ich, dass Reinmüller einem sogar all jene Orte vorstellt, an der sich das Drama abgespielt hat. Vom damaligen Wohnort Mary Vetseras bis zu den Wegen, die sie gegangen ist, wenn sie den Thronfolger in der Hofburg besucht hat. Seien es die damaligen Adressen aller Beteiligten, oder die Ansichten von Schloss Mayerling mit zeitgenössischen Skizzen – es ist alles da, um sich selbst auf die Suche zu machen. Sogar die Galanteriewarenhandlung Rodeck, wo Mary Vetsera jenes goldene Zigarettenetui für Rudolf gekauft hat, dessen Gravur an ihre erste gemeinsame Nacht erinnern sollte.

Credit: Kral Verlag

Meines Wissens nach ist Reinmüller auch der erste, der die vor nicht allzu langer Zeit wiedergefundenen Abschiedsbriefe Mary Vetseras geschlossen vorstellt.

Unabdingbar für Hobbydetektive natürlich auch eine ausführliche Zeittafel der Geschehnisse.

Ein ganz wichtiges Kapitel widmet der Autor dem Tathergang. Mittels Holzfiguren stellt er nach, wie Rudolf zunächst Mary und dann sich selbst getötet hat.

Das Buch lebt von den Bildern. Das muss man ganz klar sagen. Ob Fotos oder Skizzen – es ist alles da und es ist hervorragend gemacht.

Was es mich zu einer erstklassigen Quelle macht, ist eindeutig das Fehlen jeder Romanhaftigkeit.
Reinmüller widerlegt all jene Verschwörungstheorien, die da besagen, Rudolf und Mary seien im Auftrag dunkler Mächte ermordet worden, da der Thronfolger ihnen mit seinen liberalen Ansichten in die Quere gekommen sei.

Was aber bleibt nach der Lektüre von jenem – in zahllosen Spielfilmen und Romanen kolportierten – Bild des Thronfolgers, das ich zu Beginn gezeichnet habe?
Nichts!
Wir sehen einen vollkommen ruchlosen Charakter, der ein junges Mädchen in den Selbstmord manipuliert, weil er wohl zu feige ist, alleine zu gehen. Wir sehen einen Mann, der sich bei Prostituierten mit Geschlechtskrankheiten infiziert, seine Ehefrau damit ansteckt und zur Unfruchtbarkeit verdammt. Einem Mann, der nicht davor zurückschreckt, beim Vatikan eine Auflösung dieser Ehe zu beantragen, und als Begründung eben jene Unfruchtbarkeit ins Feld zu führen. Einem Mann, der schlussendlich in einem Sumpf aus Alkohol und Drogen untergeht.

Alles in allem ist mein Fazit, dass Rudolf Selbstmord begangen hat (was auch nie bestritten wurde. Allerdings gab man an, es sei in geistiger Umnachtung geschehen).
Das sehr ernste Gespräch, das die ganze Nacht gedauert hat und von Rudolfs Leibdiener mit angehört wurde (er verstand allerdings nicht, was gesagt wurde), diente in meinen Augen einzig dazu, Mary vom gemeinsamen Tod zu überzeugen. Dass sie auf der Bettkante saß, als sie erschossen wurde, ist für mich ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sie nicht mit dem Schuss gerechnet hat, denn dann hätte sie sich wohl eher hingelegt, Kleid und Haar glattgestrichen und sich bereit gemacht. Ebenso, dass sie mit sechs Koffern angereist ist …

Ihr seht – auch wenn das Buch eine hervorragende Sammlung von Fakten ist, kann man eben genau aufgrund derer in wunderbare Spekulationen eintreten zu jenem … Cold Case Mayerling.

FAKTEN:
Helmut Reinmüller, Cold Case Mayerling, Kral Verlag 2021, 200 Seiten, 24,90 €