Die Zeit der Aufklärung ist bei uns beinahe vollkommen vergessen. Was die Habsburger Kaiser und Könige angeht, so erinnern sich die meisten maximal noch an Maria Theresia, die Über-Mutter und dann wieder an Sisi und Franzl …
das sollte man tunlichst ändern und zu diesem Zweck empfiehlt sich das Buch von Monika Czernin, welches ich ihm Folgenden vorstellen möchte …

Der Kaiser reist inkognito
Ein junger Mann liegt im Dreck. Angekettet an eine feuchte, eisige Mauer.
Um ihn herum nichts als Dreck und menschliche Exkremente.
Der Mann jedoch wirkt gepflegt. Seine Kleidung ist wertvoll und nur vom Knien beschmutzt.
Jeder Leser fragt sich natürlich bei dieser Stelle zu Beginn des Buches, wer das ist, der da in einem Kerker zu verrotten scheint.
Die Antwort kommt prompt: Kein Geringerer als Kaiser Joseph II, Sohn der Kaiserin Maria Theresia und ihr Mitregent.
Was war passiert? Der Kaiser wollte das Leben seiner Untertanen kennenlernen und dazu gehörte die Kerkerstrafe. Er wollte wissen, wie all die Männer und Frauen sich fühlen, wenn sie für Tage, Wochen – gar Jahre so eingesperrt wurden.
Diese Stunden in Ketten sollten ihn prägen.
Er beschloss, seine Länder inkognito zu bereisen und so direkt und ungeschönt zu erfahren, wie das alltägliche Leben der Menschen verlief. Welche Sorgen und Probleme sie hatten.
Monika Czernin nimmt uns nunmehr mit auf seine zahlreichen Reisen kreuz und quer durch sein Reich. Aufgefüllt wird das Ganze durch Briefexzerpte, die er u.a. an seine Mutter und seinen Bruder schrieb, der in der Toscana Vorbildliches an Reformen leistete.
Über all den Anstrengungen, die der Graf von Falkenstein (wie der Kaiser sich auf seinen Resien nannte) aber stand der Begriff der Aufklärung.
Joseph verlangte Zahlen. Gespräche beinahe auf Augenhöhe. Keine geschönten Berichte, die ins ferne Wien geschickt wurden, um Ruhe und Zufriedenheit zu verbreiten, wo eigentlich Alarmstimmung herrschen müsste.
Ich muss gestehen, ich habe das Buch von der ersten Seite an verschlungen. Es bringt einem die grauenhafte Lebenssituation der einfachen Menschen so unverstellt näher, dass man nur mit Verwunderung auf jene blicken kann, die behaupten, früher sei doch alles besser gewesen.
Czernin versteht es dabei, die Hintergründe der wirtschaftlichen und politischen Misere, die in jenem gewaltigen Reich herrschte, leicht nachvollziehbar, und dabei dennoch nicht oberflächlich vorzustellen.
Durch Zitate von Augenzeugen, trifft einen das Geschehen so unmittelbar, dass man beinahe den Gestank riechen kann, der von den zahllosen Siechen und Bettlern ausgeht. Vom auf dem Feld verrotteten Getreide und den sterbenden Tieren.
Wo es sicherlich verlockend wäre, Schuld zuzuweisen, bringt sie es fertig, aufzuzeigen, wie die Herrschenden versucht haben, gegen Strukturen und Traditionen anzugehen und doch scheiterten. Aber auch diejenigen werden benannt, die von der Misere, von der Leibeigenschaft und der Ausbeutung schamlos profitierten.
Es stimmt einen sehr nachdenklich, wenn man diesen neuen Blick auf das 18. Jahrhundert tut. Man merkt, wie einfach es war ein „Ancien Régime“ zu kritisieren und wie schwer es den Menschen damals fiel, Auswege zu erkennen.
Beinahe frustrierend, wenn man sieht, wie lange es noch brauchen sollte, bis zum Beispiel das „Robot“ abgeschafft wurde.
Unter Robot verstand man verschiedene Arten von Frondienst. Das bedeutete, dass Bauern zum Beispiel erst das Land des Herrn zu bewirtschaften hatten, bevor sie ihr eigenes bestellen durften, was dann – logischerweise zu kurz kam und Hunger und Elend vorprogrammiert waren. Es galt als üblich, dass an drei Tagen pro Woche Robot geleistet werden durfte, und an den restlichen für sich selbst gearbeitet. Tatsächlich waren aber 5 Tage durchaus Gang und Gäbe. Wenn man bedenkt, dass am Sonntag nicht gearbeitet werden durfte/ sollte, kann man sich denken, wie das für die Leibeigenen ausging.
Oder wie Czernin schreibt: „Die Scholle klebte am Bauern und der Bauer an der Scholle“, denn natürlich dürften solche Leibeigenen ihre Herren nicht einfach verlassen …
Aufgeteilt ist das Buch übrigens in Kapitel, die sich an den Reisen des Kaisers orientieren. Wer mag, kann zu Beginn jedes Kapitels die Stationen der Reise nachvollziehen und sich im nächsten Urlaub vielleicht sogar auf die Spuren des Kaisers begeben.
Ein spannendes Unterfangen mit Sicherheit.
Dieser aufgeklärte Monarch, der inkognito durch die Lande reiste, mit Bauern und Herren sprach und nicht müde wurde, Bittschriften entgegenzunehmen und Reformen anzustoßen, hatte aber auch seine Schattenseiten, wie Czernin darlegt.
Es geht um die Teilung Polens. Maria Theresia hat sie unterschrieben, aber der Kaiser hatte sie zu verantworten. Maria Theresia unterschrieb, weil sie einen Krieg fürchtete, den sie nicht würde stemmen können bei all der wirtschaftlichen Not in ihrem Reich. So zitiert Czernin sie mit einem Briefzitat:
„Diese schreckliche Teilung Polens kostet mich zehn Jahre meines Lebens.“
Und:
„Ihr werdet sehen, wie unglücklich sich diese ganze Affäre entwickeln wird.“
Joseph aber hatte sich mit Friedrich II verständigt, der wiederum hatte die russische Zarin ins Boot geholt und dann stand der Teilung nichts mehr im Wege. „Partager le gâteau“ („Den Kuchen teilen“), wie man das nannte.
Was vielleicht manche Leser eines Sachbuches irritieren könnte, sind die romanhaften Stellen.
„Sind wir angekommen, fragt sich Joseph, während er sich den Schlaf aus den Augen reibt. Er hört Stimmen. Einige sprechen Ungarisch, andere Deutsch (…) Er hat schlecht geträumt. (…) Joseph atmet tief ein. Als on ihn seine geheimen Wünsche irgendwie beunruhigen würden.“
Ich muss gestehen, dass ich mich erst an sie gewöhnen musste. Allerdings konnte ich keine Stelle finden, deren Erfindung irgendwelche falschen Schlussfolgerungen ermöglicht hätte. Möglicherweise sind sie sogar durch Briefe oder Tagebucheinträge gedeckt. Das vermag ich nicht zu sagen.
Auf jeden Fall gestalten sie das Buch lebendiger als es eine reine Aufzählung von Fakten könnte.
Sehr gut finde ich auch die Zeittafel im Anhang, die einem einen sehr guten Überblick über die wichtigsten Geschehnisse gibt, sodass man alles gut nachvollziehen kann, auch wenn man später etwas nachschauen möchte.
Es gibt des weiteren ein Ortsregister, das aber zu wünschen übrig lässt. Wenn man eines anhängt, sollte es auch wirklich alle Orte, die im Text genannt werden, erwähnen. Dies geschieht hier nicht, was ich schade finde. So hatte ich nicht gewusst, dass der Kaiser auch im zu meinem Wohnort nahegelegen Worms war, das dann aber im Anhang fehlt. (Ja, ja – ich weiß – der Lokalpatriotismus …)
Auf den Klappeninnenseiten finden sich farbige Karten Europas und seiner Aufteilung, was ich sehr interessant finde.
FAZIT:
Ein rundum gelungenes Buch, das nicht nur einen ungewöhnlichen Kaiser vorstellt und begreifbar macht, sondern, das auch einen unverstellten Blick auf die Menschen des 18. Jahrhunderts ermöglicht.
Die Zeit der Aufklärung, die leider weitgehend in Vergessenheit geraten ist mit ihren modernen Ansätzen und Reformversuchen, wird wieder lebendig und verführt die Leser hoffentlich zu einer neuerlichen Beschäftigung mit dieser aufregenden und für Europa wegweisenden Zeit.
Es liest sich spannend wie ein Roman und regt dazu an, sich noch weitergehend zum Thema zu informieren.
Was mich persönlich angeht, so habe ich noch eine umfangreiche Maria Theresia- Biografie liegen, die ich jetzt angehen werde. Immerhin war das 18. Jahrhundert auch das Jahrhundert der großen Herrscherinnen.
FAKTEN:
Monika Czernin: Der Kaiser reist inkognito – Joseph II und das Europa der Aufklärung, Penguin Verlag, 3. Auflage 2021, 384 Seiten, gebundene Ausgabe, 22,00
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www.monikaczernin.com