Japan – Der fremde Bruder

Japan – Der fremde Bruder

Seit vielen Jahren fasziniert mich Japan. Genauer gesagt – seit ich damals „Shogun“ im Fernsehen gesehen habe. Die Schönheit der Landschaft, das Gemeimnisvolle der Menschen und ihrer Kultur.
Sie tun das Gleiche wie wir – nur anders. Das faszinierte mich.
Dann kam meine Begeisterung für die Bücher und das Leben von Yukio Mishima.
Ich schloss Freundschaft mit einigen Japanern und konnte immer noch nicht behaupten, dass ich dieses Land auch nur annähernd verstand …
Solltet ihr genauso empfinden und eine Antwort zumindest auf die eine oder andere Frage suchen, so kann ich nun endlich einen Buchtipp geben:

Wenn wir an Japan denken, dann fallen uns Samurai ein, das Kirschblütenfest, weiß geschminkte Gesichter in Kimonos gehüllter Damen und geheimnisvolle Tempel ein. Aber natürlich auch ein jahrhundertealtes Kaiserhaus.

Wie bei mir vielleicht nicht anders zu erwarten, möchte ich dem Kaiserhaus meine besondere Aufmerksamkeit schenken, wobei mir das kürzlich entdeckte Buch „Das Erbe des Tennōs“ von Wieland Wagner ein ganzes Stück weit geholfen hat.

ZUNÄCHST ZUM AUTOR:
Geb. 1959 in Eckernförde. Studierte Geschichte und Germanistik in Freiburg, London und Tokio. Dissertation über Japans frühe Expansionspolitik in Ostasien, ausgezeichnet mit dem Gerhard-Ritter-Preis. Von 1990 bis 1993 arbeitete er als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Vereinigte Wirtschaftsdienste (VWD) in Tokio. Bis 1995 war er Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seit 1995 berichtet Wagner für den SPIEGEL aus Asien, bis 2004 zunächst mit Sitz in Tokio, anschließend in Shanghai, ab 2010 in Peking, ab 2012 in Neu-Delhi und von 2014 bis 2018 wieder in Tokio. Er ist Autor der SPIEGEL-Bücher: »Japan. Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt.« (2018) und: »Das Erbe des Tennos. Die geheimnisvollste Monarchie der Welt und das Ringen um Japans Zukunft.« (2023) (Quelle: SPIEGEL)

Wir haben es also mit jemandem zu tun, der nicht nur die Sprache spricht, sondern auch schon viele Jahre in Japan lebt. Sicherlich Grundlage, wenn man vernünftig über das Kaiserhaus berichten will.

Die Kaiserliche Familie

Das ist wohl das wichtigste Bild dieses Posts. Hier findet ihr die aktuellen Mitglieder des Kaiserhauses.
Kaiser Akihito und seine Frau Michiko sind zugunsten ihres Sohnes Naruhito seinerzeit zurückgetreten.

Der Himmel ist fern – und der Tennō ist es auch

So könnte man die Analyse Wagners zusammenfassen.
Im Gegensatz zu europäischen Monarchien, hat der Tennō seit dem Zweiten Weltkrieg keinerlei politisches Mitspracherecht mehr.
Ja – die Verfassung untersagt ihm jegliche – auch nur annähernd – politische Äußerung.

Tatsächlich untersucht Wagner anhand der jüngeren Geschichte des Kaiserhauses wie es dazu kam.

Beginnend mit der Öffnung des Landes, über Kaiser Hirohito, der mit knapper Not seine Beteiligung am WKII überlebte, bis hin zum heutigen Nachfolgeproblem des Kaiserhauses, untersucht Wagner inwieweit der Kaiser wirklich von seinem Land losgelöst ist, oder doch eben dieses Land mit seiner kompletten Existenz repräsentiert.
Die Erkenntnisse hierzu werden im Laufe des Buches zu einem Spiegel der japanischen Gesellschaft an sich und so sehr die Politiker auch versuchen, das Kaiserhaus in eine nebulöse, hermetische Existenz abzudrängen und so für ihre Zwecke manipulierbar zu machen, so sehr scheitern sie doch an den kraftvollen und entschlossenen Persönlichkeiten, die eben jenes Herrscherhaus nach dem Krieg ausgemacht haben und noch immer ausmachen.

Distanz-Probleme

Der Tennō hatte seinen Platz seit jeher fern von den normalen Menschen und das änderte sich auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht. Was sich aber änderte, war das Interesse der Bevölkerung am Kaiserhaus. Wie auch bei uns schien sich das Publikum zu spalten: die jungen Menschen interessierten sich überwiegend nullkommanull für die kaiserliche Familie, während vor allem die mittleren Altersschichten enormes Interesse zeigten.

Dazu muss man wissen, dass die kaiserliche Familie in einem abgeschotteten Areal in Tokio lebt und von den Bürgern nur zu wenigen Anlässen im Jahr gesehen wird. Die Aufgaben des Kaisers beschränken sich tatsächlich auf rituelle Handlungen, besondere religiöse Zeremonien, die er als Nachkomme der Sonnengöttin Amaterasu durchzuführen hat.

Was Wagner nun sehr schön präsentiert, ist die ungewöhnliche Rolle der Massenmedien in Bezug auf das Kaiserhaus.

Man kann beinahe von einer Dreiecksbeziehung sprechen: 1) kaiserliche Familie, 2) Politiker/ Regierung und 3) Boulevard-Presse.

Dazu muss man wissen, dass in Japan die Liberaldemokratische Partei praktisch ununterbrochen seit dem Kriegsende das Land regiert. Es gab nur wenige, kurze Zeitabschnitte, in denen sie gezwungen war, sich einen Koalitionspartner zu suchen.

Politische Parteien in Japan haben nun – laut Wagner – eher die Aufgabe, Pfründe zu verteilen, als zur Meinungsbildung beizutragen. (Wie es ihre vom Grundgesetzt z.B. in Deutschland festgeschriebene Aufgabe ist).

Seit Jahrzehnten nun versucht die Regierungspartei den Kaiser dem Blick des Publikums zu entziehen. Er darf sich nicht öffentlich äußern und hat lediglich rituelle Bedeutung. Dadurch wird aber ein Tennō zu einer Figur, die man nach Belieben manipulieren kann, da der Tennō niemals etwas richtigstellen darf.

Sprich: Eine Regierung kann bei jeder Entscheidung behaupten, dies sei so der Wille des Kaisers. Dieser ist hingegen zum Schweigen verdammt.

Aus diesem Grunde haben die Kaiser sehr elaborierte Wege entwickelt, ihre Meinung dennoch kundzutun. Diskrete Hinweise auszusenden. Ähnlich wie die Queen es zum Beispiel mit der Wahl ihres Schmuckes getan hat.

Was ich bei Wagner besonders spannend finde ist, wie er die Tatsache herausarbeitet, dass mittlerweile ausgerechnet der Kaiser zum Hüter jener pazifistisch- demokratischen Verfassung wurde, die die Regierungen jeweils aufzuweichen versuchen.

Mädchen oder Junge – Das ist hier die Frage

Wir wissen inzwischen, wie König Charles III die Frage einer schlanken Monarchie angeht: Er lässt nur noch wenige seiner nächsten Anverwandten als Working Royals zu.

Das japanische Kaiserhaus hat da ganz andere Probleme.
Wenn sie sich in kompletter Aufstellung auf dem Palastbalkon versammeln, um die guten Wünsche der Untertanen entgegenzunehmen, sind nur noch eine Handvoll Royals versammelt …

Wagner erklärt auch wieso:
Mit Ende des ersten Weltkrieges lösten die Amerikaner sozusagen das kaiserliche Konstrukt auf. Sämtlichen Adeligen wurden die Titel entzogen, sie mussten den Palast verlassen und sich eine bürgerliche Existenz aufbauen.

Dazu kam noch ein Geburtenproblem in der Kaiserfamilie selbst:
Hatte Kaiser Hirohito mit seiner Gattin Nagano noch sieben Kinder gezeugt, hatte sein Sohn und Nachfolger Akihitio nur noch drei Kinder.

Wäre diese Welt nun eine gerechte, stünden ein knappes Dutzend Personen auf dem Balkon.
Aber diese Welt ist nicht so.

In Japan gilt nämlich das rein männliche Erbrecht.
Das führte dazu, dass bis zum 6. September 2006 nur ein Mädchen für die Thronfolge in Frage kam: Kaiser Naruhitos Tochter Aiko.

Da am Horizont kein weiteres erbfähiges Kind auftauchte, legte die Regierung eine Gesetzesänderung bezüglich der Thronfolge vor: Nunmehr sollten auch Mädchen Kaiserin aus eigenem Recht werden können. Ein Erdrutsch im konservativen Japan.

Tja – und dann kam jener denkwürdige Tag, an dem der Palast bekannt gab, dass die Schwägerin des Kaisers, Prinz Fumihitos Gattin, schwanger sei.
Und an eben jenem Tag im September war klar: der neueste Zuwachs der kaiserlichen Familie war ein Junge: Prinz Hisahito.

Ruckzuck verschwand der Gesetzesentwurf zur weiblichen Thronfolge in der Schublade des Parlaments. Denn nun gab es einen potentiellen männlichen Erben des Chrysanthemen-Throns.

Wem das merkwürdig vorkommt – im 21. Jahrhundert – der wird sich gleich noch mehr wundern!

Das Problem des fehlenden männlichen Thronfolgers bestand ja nun mehrere Jahre. Und wie man sich vorstellen kann, meldeten sich zahlreiche Stimmen, die Lösungsvorschläge anzubieten hatten.

Die wohl für uns exotischste lautete: Wenn Kaiserin Masako nicht in der Lage ist, weitere Kinder, geschweige denn einen Sohn, zu produzieren, sollte der Kaiser sich eine (oder mehrere) Konkubinen, sprich Nebenfrauen, nehmen.
Eine solche könnte nämlich einen Thronfolger zur Welt bringen.
Für frühere Kaiser war das die gängige Praxis und nicht wenige Tennōs stammten von Nebenfrauen eines regierenden Kaisers. Das setzte sie in keiner Weise herab.

Wir ahnen es: Der Kaiser lehnte ab. Keine gebährfreudigen Konkubinen für den Kaiser.
Wenig verwunderlich, hatte doch der amtierende Tennō Naruhito über viele Jahre zu seiner Frau gehalten, die einer unmenschlichen Nachstellung durch die japanische Öffentlichkeit ausgesetzt gewesen war und auf diese mit einer schweren depressiven Erkrankung reagiert hatte.
Der Kaiser hatte sich stets vor seine Frau gestellt und das Amt des Kaisers alleine bewältigt. Dies war umso trauriger, als seine eigenen Eltern als Dream-Team agiert hatten. Es gab Akihito nur im Doppelpack mit Michiko. Dies hatte sich als äußerst erfolgreiches Rezept erwiesen.

Ein weiterer Vorschlag bestand darin, einen Thronfolger zu adoptieren. Auch das ist in Japan möglich. Es müsste ein Mann aus einem der ehemaligen Adelshäuser sein, die nach dem WKII abgeschafft worden waren.

Wagner untersucht nun, inwieweit der Vorschlag praktikabel wäre und kommt zu dem Ergebnis, dass eigentlich nur noch zwei ehemalige Adlige in Frage kommen würden.
Also ist auch hier die Luft dünn.

Kurz gesagt: Mit dem kleinen Hisahito hatte Japan seinen Thronfolger. Wenn die ganze Sache auch am sprichwörtlichen seidenen Faden hängt.

Denn man darf nicht vergessen: selbst ein Kronprinz kann sagen: „Danke. Aber – nein, Danke!“
Was, wenn Hisahito eines Tages entdeckte, dass er nicht in einem goldenen Käfig verschwinden mag? Was, wenn er keine Lust hat, eine schweigende, fremdbestimmte Marionette zu sein, zurückgeworfen auf den Ausführenden zahlloser Rituale, die mit dem Leben der Menschen jenseits des Käfigs praktisch nichts mehr zu tun haben?
Was, wenn er keine Frau findet, die bereit ist, ihr eigenes Leben und das ihrer Familie in der Öffentlichkeit sezieren zu lassen?

Dann gibt es immer noch Aiko und die Möglichkeit der weiblichen Thronfolge.

Und so ist zur Überraschung vieler Japaner inzwischen – laut Wagner – ein Wettrennen zwischen den beiden jungen Leuten und ihren Eltern um die Gunst des Landes losgegangen.
Denn Aiko, respektive die kaiserlichen Eltern, scheinen entschlossen, nicht kampflos aufzugeben. So positionieren sie die junge Frau immer wieder als die Zukunft des Thrones.

Übrigens hat Aiko – im Gegensatz zu Hisahito noch ein weiteres Problem: Wenn sie einen bürgerlichen Partner heiraten wollen würde, müsste sie das Kaiserhaus wortwörtlich verlassen. Sie bekäme 1 Million Dollar Abfindung und müsste sich im Zivilleben eine Existenz aufbauen. Nicht einfach, wie man bereits vorhandenen Beispielen sehen kann.

Es gilt:

Du kriegst die Prinzessin aus dem Kaiserhaus.
Aber niemals das Kaiserhaus aus der Prinzessin…


(Aber dazu wird es noch einen eigenen Artikel geben. Versprochen!)

Ihr seht – es bleibt spannend!

FAZIT:

Wieland Wagner gibt einen profunden Einblick in die neuere Geschichte des japanischen Kaiserhauses, das dennoch auch für Nicht-KennerInnen der Materie nachvollziehbar ist.
Ich selbst fand es spannender als einen Krimi.
Nicht zuletzt liegt Wagners große Leistung darin zu verdeutlichen, worin die einmalige Rolle eines Tennōs besteht. Wie sehr er tatsächlich sein Land verkörpert.
Man sieht dank dieses Buches nicht zuletzt den tieferen Zusammenhang zwischen dem Kaiserhaus und den politischen Kämpfen in Japan, was nicht zuletzt darin begründet liegt, dass das Nachkriegs-Kaisertum praktisch genauso lange an der Macht ist wie die Regierungspartei.

Wer also einen (Beinahe-) Insiderbericht über das japanische Kaiserhaus und seine Kämpfe sucht, das mit ungeheuer viel Sachkenntnis geschrieben wurde und dennoch spannend zu lesen ist, sollte unbedingt zu diesem Titel greifen.