
Bevor man auch nur das erste Wort eines Romans schreibt, muss man sich über die Erzählperspektive klar werden.
Habt Ihr euch da vergriffen, kann es passieren, dass mitten im Text die Story in sich zusammenklappt und es nicht mehr weitergeht. (Was allerdings nicht zwingend sein muss, wie Ihr am Ende dieses Beitrags sehen werdet…)
Deswegen schauen wir uns zunächst die möglichen Perspektiven an:
Auktorialer Erzähler
Oooooh jaaaaa… An den erinnern wir uns noch aus der Schule. Fiese Sache. Alleine bei dem Begriff bäumt sich der innere Fluchtreflex auf…
· Der AE gehört nicht als handelnde Figur zur Geschichte
· Er steht über dem Geschehen
· Wäre er ein Spotscheinwerfer über eurer Story, könnte er mit seinem Licht jederzeit überall hin wechseln, und beleuchten was er mag.
· Er ist sozusagen der Liebe Gott unter den Erzählern.
· Er kann in den Kopf jeder Figur schlüpfen
· Er kennt Vergangenheit und Zukunft
· Was er sagt, ist für die LeserInnen wahr, glaubhaft und nachvollziehbar
· Er kann aber auch so tun, als wisse er nicht mehr als die LeserInnen
· Es kommt zu einer gewissen Distanz zwischen der Geschichte und den LeserInnen
· Der AE kommt meistens in den klassischen Romanen vor
Beispiel:
„Der Mai war schön, der Juni noch schöner, und Effi, nachdem ein erstes schmerzliches Gefühl, das Rollos Eintreffen in ihr geweckt hatte, glücklich überwunden war, war voller Freude, das treue Tier wieder um sich zu haben. Roswithe wurde belobt, und der alte Briest erging sich, seiner Frau gegenüber, in Worten der Anerkennung für Instetten, der ein Kavalier sei, nicht kleinlich, und immer das Herz auf dem rechten Fleck gehabt habe. ”Schade, dass die dumme Geschichte dazwischenfahren musste. Eigentlich war es doch ein Musterpaar.”“ Theodor Fontane: „Effi Briest“
Personaler Erzähler
Der PE taucht eigentlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. (Von einigen Ausnahmen unter den Klassikern abgesehen)
· Es wird in der dritten Person erzählt (Er/ Sie)
· Ein wirklicher Erzähler ist den LeserInnen nicht bewusst
· Die AutorInnen entscheiden sich zu Beginn, aus wessen Blick sie erzählen wollen
· Vorsicht! Dieser Blickwinkel darf nicht wild gewechselt werden! Zumindest innerhalb eines Kapitels/ größeren Sinnabschnitts sollte man bei einer Perspektive bleiben; So kann aber durchaus ein Kapitel aus dem Blickwinkel einer Person erzählt werden, und im nächsten Kapitel dann aus der Sicht einer anderen Figur
· Durch diese sehr persönliche Perspektive gelingt den LeserInnen keine neutrale Haltung mehr; Sie müssen die Perspektive des Erzählers einnehmen und entsprechend Position beziehen
· Das Geschehen wird wesentlich intensiver von den LeserInnen empfunden
· Es ist hier so, als würde man mit seinem Spotscheinwerfer auf einer bestimmten Figur bleiben und nur sie begleiten
Beispiel:
„Zunächst wollte er ruhig und ungestört aufstehen, sich anziehen und vor allem frühstücken, und dann erst das Weitere überlegen, denn, das merkte er wohl, im Bett würde er mit dem Nachdenken zu keinem vernünftigen Ende kommen. Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen vielleicht durch ungeschicktes Liegen erzeugten, leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden.“
Franz Kafka: Die Verwandlung. 1915
Ich- Erzähler
· Erzähler und handelnde Figur sind identisch
· Das erzählende Ich ist aber oftmals erfahrener als das handelnde/ erzählte Ich
· Das erzählende Ich kann so z.B. seine eigenen Handlungen werten und in einen Kontext stellen
· Es ergibt sich allerdings eine Einschränkung an dem, was dargestellt und kommentiert werden kann, da ja eben nur aus der Sicht einer Figur erzählt wird
Beispiel:
„Vergangene Nacht träumte ich, ich wäre wieder in Manderley. Mir war, als stünde ich vor dem eisernen Tor, das zur Auffahrt führte, und eine Weile konnte ich nicht eintreten, denn der Weg war versperrt. Am Tor hing eine Kette mit einem Vorhängeschloss. Im Traum rief ich nach dem Pförtner, erhielt aber keine Antwort, und als ich durch das die rostigen Gitterstäbe spähte, sah ich, dass das Pförtnerhaus unbewohnt war. (…) Ich habe nichts mehr gemein mit der jungen Frau, die damals zum ersten Mal voller Hoffnung und Eifer nach Manderley fuhr…“ Daphne du Maurier: Rebecca
Für welche Perspektive sollte man sich als AutorIn entscheiden?
Keine Ahnung.
Es kommt auf Deine Story an. Auf die Geschichte, die du erzählen willst. Willst du Identifikation zulassen? Erzwingen? Verhindern?
Sollen die LeserInnen in ein bestimmtes Paar Schuhe schlüpfen dürfen, vielleicht sogar die Schuhe das eine oder andere Mal wechseln?
Bleiben wir bei Rebecca…
Sie heiratet überraschend den wesentlich älteren, verwitweten Maxim de Winter, der sie nach Manderley, sein Landhaus am Meer, mitnimmt.
Dort trifft sie mit der ebenso geheimnisvollen wie – offensichtlich – besessenen Haushälterin Mrs. Danvers zusammen, die noch immer in abgöttischer Zuneigung an der tödlich verunglückten ersten Mrs. De Winter hängt.
Natürlich hätte Du Maurier die Geschichte der jungen Protagonistin in auktorialer Erzählweise berichten können.
Dann wäre die Spannung sicherlich erhalten geblieben. Alle Gefühle hätten in der gleichen Bandbreite geschildert werden können.
Zudem hätte sie die Geschehnisse aus der Sicht von Maxim oder Mrs. Danvers schildern können, was dem Ganzen unter Umständen sogar noch mehr Tiefe gegeben hätte.
Warum also hat sie sich für die Ich- Perspektive entschieden?
Natürlich bin ich nicht Daphne Du Maurier, aber ich kann mir denken, wieso sie es getan hat.
Die Geschichte wird deswegen so geheimnisvoll, weil wir LeserInnen in die gleiche, hilflose Situation geworfen werden wie die Heldin.
Je auswegloser ihre Situation wird, desto auswegloser wird sie auch für uns.
Hier wird eine nicht zu toppende Nähe zur Heldin geschaffen.
Wobei wir natürlich bereits zu Beginn des Romans erfahren, dass sie alles überstanden hat und auch die Ehe mit Maxim nicht gescheitert ist.
Das heißt: Du Maurier zwingt uns zur Konzentration auf die Handlung an sich, wenn sie sich dadurch natürlich auch einen Gutteil der möglich gewesenen Spannung nimmt.
Was ist nun das Fazit?
Ihr müsst die Entscheidung selbst treffen.
Wollt Ihr Eure Geschichte wie eine Art schreibender Gott erzählen, oder – auf dem anderen Ende des Spektrums – unausweichlich und direkt als Ich- ErzählerIn?
Übrigens muss das nicht zwingend eine Sackgasse sein.
Ich denke hier an den Film „Legend“ über die Kray- Brüder, gespielt von Tom Hardy. Deren Geschichte wird aus dem Off von Reggies Frau Frances (Emily Browning) erzählt und kommentiert.
Der Knackpunkt kommt, als Frances sich das Leben nimmt.
Und… weiter kommentiert, eben auch ihren eigenen Tod, sowie den Untergang ihres Witwers und dessen Zwillingsbruders.
Ihr seht – Ihr habt alle Möglichkeiten auch mit den Techniken zu spielen. Wichtig ist nur – Jonglieren muss gekonnt sein, wenn es gut aussehen soll, und man nicht am Ende hinter seinen Bällen herrennen will…